„Heulender Bolschewik“ ist Kandidat

Jelzin erhält Konkurrenz/ Das ZK-Plenum der russischen Kommunistischen Partei kürt den Apparatschik Ryschkow zu seinem Kandidaten/ Weder Jelzin noch Ryschkow sind bislang registriert  ■ Aus Moskau Klaus-H. Donath

Am 12. Juni werden die Russen in der Russischen Föderation (RSFSR) zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen eigenen Präsidenten wählen. Die Einrichtung eines Präsidentenamtes hatte der Vorsitzende des Obersten Sowjet der RSFSR und Widersacher Gorbatschows, Boris Jelzin, seit langem forciert. Mit der Wahl des Präsidenten zerfällt ein weiteres Stück alter Sowjetidentität. Die Abschottung der Republiken der UdSSR gegeneinander nimmt Konturen an. Lange hatte man in der Sowjetunion in dem Fehlen einer eigenständigen politischen Struktur der größten Republik eine Garantie der russischen Dominanz über die anderen Republiken gesehen. Sowjetisches und Russisches waren eine Einheit. Damit ist es nun vorbei.

Auch nach dem Auftauchen anderer Präsidentschaftskandidaten bleibt Boris Jelzin der aussichtsreichste Kandidat. Trotz harscher Kritik, die er nach seiner Unterschrift unter den „Eins-plus-neun- Vertrag“ zwischen den Republiken, die der neuen Union beitreten wollen, und dem Zentrum letzten Monat von seiner Klientel hat einstecken müssen. Die Riege um den Radikalreformer mag damit spekulieren, im Falle seines Sieges einen härteren Kurs in Richtung Marktwirtschaft anzusteuern. Zur Rücksichtnahme auf die noch rückständigeren Republiken wäre man dann nicht mehr wie bisher gezwungen. Daher kam die Unterstützungserklärung der Bewegung „Demokratisches Rußland“ alles andere als überraschend.

Inzwischen hat die ultrakonservative Kommunistische Partei der RSFSR ihren eigenen Favoriten nominiert. Es ist Nikolai Ryschkow. Den Sowjetbürgern noch bekannt als Ministerpräsident der UdSSR. Im Dezember letzten Jahres erlitt er einen Herzinfarkt, und Präsident Gorbatschow nutzte die Chance, sich von seinem unpopulären Premier zu trennen. Nicht zuletzt war es Ryschkow, der die fehlgeschlagenen halbherzigen Wirtschaftsreformen der fünfjährigen Perestroika federführend mitzuverantworten hatte. Und er war es auch, der die Durchsetzung des radikalen wirtschaftlichen Sanierungskonzeptes, bekannt als 500-Tage- Programm, der Ökonomen Jawlinski und Schatalin sabotierte. Die Bürger erinnern sich noch sehr genau an die Fernsehauftritte ihres alten Premiers, in denen er ständig über seine schwere Last als Spitzenpolitiker lamentierte. Man verpaßte ihm den Spitznamen der „heulende Bolschewik“. Nicht nur die KP Rußlands erhob den jetzigen Rentner nun auf ihr Banner. Auch zahlreiche Arbeitskollektive wünschten sich ihn als ihren Kandidaten. Vor allem aber die konservative Fraktion „Sojus“ im Volksdeputiertenkongreß der UdSSR um die schwarzen Obristen Viktor Alksnis und Nikolai Petruschenko unterstützt seine Kandidatur. Ryschkow ist der Favorit des einflußreichen militärisch-industriellen Komplexes. Vor seiner Politikerzeit stand er als Direktor der großen Waffenschmiede „Uralmasch“ in Swerdlowsk vor. Sein jetziger Konkurrent Jelzin bekleidete zu jenem Zeitpunkt den Posten des örtlichen Parteichefs. Kein gutes Omen für den Wahlausgang. Ryschkow steht zu den Errungenschaften des Sowjetsystems, das hat er als Premier lebhaft bewiesen. Daher ist auch anzunehmen, daß ihm viele Stimmen aus der Landwirtschaft zufließen. Mit aller Vehemenz setzt er sich für den Erhalt der Sowchosen und Kolchosen ein. Mit der Privatisierung der Landwirtschaft, wie sie Jelzin fordert, hat er überhaupt nichts am Hut. Vielmehr allerdings hat Ryschkow als Wahlprogrammm nicht zu bieten. Seine Bitterleidensmiene ist allerdings ein Wahlschlager — die Russen mögen nun mal Märtyrer.

Das Nominierungsverfahren läßt an Kompliziertheit nichts zu wünschen übrig. Entweder müssen 100.000 Unterschriften beigebracht werden, oder der Kandidat braucht ein Fünftel der Abgeordnetenstimmen des russischen Volksdeputiertenkongresses. Weder hat sich bislang einer der bekannteren Anwärter dieser lästigen Prozedur unterworfen noch hat einer seinen auserkorenen Stellvertreter benannt. Bis zum 18. Mai muß das geschehen. Im Jelzin-Lager sinnt man angeblich darüber nach, einen konservativen Stellvertreter zu nominieren, um so die Stimmenzahl zu erhöhen. Genannt werden der General Wolkogonow und Alexander Rudsko, führendes Mitglied der russischen Pro-Jelzin- KP-Gruppe „Kommunisten für die Demokratie“.