„Humanitäre Gründe liegen nicht vor“

Innenminister Schäuble weist Berliner Senat an, 269 sowjetische Juden auszuweisen/ Sie waren während des Golfkriegs über Israel nach Berlin eingereist/ Schreiben an den Berliner Innensenator  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Die 269 sowjetischen Juden, die über den Umweg Israel während des Golfkrieges nach Berlin einreisten und hier bleiben wollen, werden die Stadt verlassen müssen. Wie erst jetzt bekannt wurde, hat Bundesinnenminister Schäuble bereits am vergangenen Freitag in einem Schreiben die Bitte des Berliner Innensenators Heckelmann vom 3. April abgelehnt, diesen Menschen eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen. In dem Schreiben, daß der Berliner Innenverwaltung bis gestern abend noch nicht vorlag und dessen Text sie, wie mehrfach betont wurde, selbst noch nicht kennen, heißt es wörtlich:

„Humanitäre Gründe [für eine Aufnahme, d.Red.], wie es das Ausländergesetz erfordert, liegen nicht vor. Weder der Wunsch, in Deutschland statt in Israel zu leben, noch gar die illegale Einreise in der irrtümlichen Annahme, auf Dauer bleiben zu können, begründet eine humanitäre Notlage. Die von den Ministerpräsidenten der Länder beschlossene Kontingentaufnahme und die auf dieser Grundlage zwischen Bund und Ländern abgestimmte Regelung, auch bis zu einem Stichtag [30. April, d.Red.) illegal Eingereisten in das Kontingent zu übernehmen, betreffen ausschließlich Juden aus der Sowjetunion. Wer aus Israel und ausgestattet mit israelischen Papieren in Deutschland einreist, ist Zuwanderer aus Israel und nicht aus der Sowjetunion, auch wenn er von dort stammt. Zu recht kann sich Israel dagegen verwahren, daß früheren sowjetischen Juden, die eine Aufnahmezusage für Israel erhalten und dort bereits Aufnahme gefunden haben, eine Weiterwanderungsmöglichkeit nach Deutschland eröffnet wird. Ein solches Unterlaufen der israelischen Einwanderungspolitik führt zu erheblichen Belastungen des deutsch- israelischen Verhältnisses und steht daher im Widerspruch zu den politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland.“

Nach Aufassung des Referenten für Ausländerfragen bei der Berliner Innenverwaltung, Spatz, sei eine Entscheidung Schäubles für den Berliner Senat bindend. Die „Ausreiseplicht“ müsse entsprechend des seit 1. Januar geltenden Ausländerrechts „zwangsweise durchgesetzt“ werden. Mit anderen Worten, es ist zu befürchten, daß Berlin als erste Stadt Deutschlands Juden abschieben wird. Die 269 Betroffenen haben bereits erklärt, daß sie Berlin nicht freiwillig verlassen werden und daß nur Polizei sie aus ihren Aufenhaltsheimen herauszerren kann. Rechtsanwalt Rosenkranz hingegen, der die Gruppe vertritt, weist darauf hin, daß der Berliner Senat sehr wohl einen Ermessenspielraum im Rahmen der Kontingentsflüchtlingsregelung besitze und diesen endlich ernst nehmen müsse. Heinz Galinski erklärte gegenüber der taz, daß er in dieser Frage „zwischen allen Stühlen sitze“, er sich zu einer Aufnahme weder „positiv noch negativ“ äußern kann. „Unerträglich“ sei aber die Vorstellung, daß polizeiliche Maßnahmen gegen diese Juden eingesetzt werden könnten. Die oppositionelle Jüdische Gruppe hingegen fordert, daß Juden, die in Deutschland „Zuflucht“ suchen, hierbleiben können. Es sei eine Schande, heißt es in einer Erklärung, daß „so schnell ordnungspolitisches Denken und Handeln die Erinnerung an die jüngste deutsche Geschichte auslöscht“.

Abgeschoben werden könnten nicht nur die 269 in Berlin „illegal“ weilenden Juden, sondern laut Innenministerium alle Juden, die sich seit dem dem 30. April mit einem abgelaufenen Touristenvisum in Deutschland aufhalten. Damit ist die im vergangenen Herbst von Schäuble angekündigte „großzügige Einreiseregelung“ ad acta gelegt. Ein Bleiberecht erhalten jetzt nur die Juden aus der Sowjetunion, deren in der Sowjetunion gestellter Ausreiseantrag positiv entschieden worden sei. Nach Angaben von Galiniski prüft das Kölner Bundesverwaltungsamt derzeit 1.800 Anträge. Eine positive Entscheidung erwarte er innerhalb der nächsten zwei Monate. Pressemeldungen, wonach 100.000 sowjetische Juden Ausreiseanträge für die Bundesrepublik gestellt haben, seien „maßlos“ übertrieben. Das Innenministerium habe mitgeteilt, daß maximal 3.000 Juden bisher einen Ausreisenantrag gestellt haben, rund 6.000 sich die Aufnahmeformulare haben zuschicken lassen. Von einer „Ausreisewelle“ könne daher nicht die Rede sein.