Die Helden von gestern in halbvollen Hallen

■ Westrocker erobern östliche Bühnen/ Die Fans aber lassen auf sich warten/ Rock als Politik-Ersatz in den FNL ist out

Halle. Zwei Jahre immerhin hat er sich nicht sehen lassen in Leipzig, der Hannoveraner Sänger und Texter Heinz Rudolf Kunze. Der Einheitsschock saß tief beim bekennenden linken Sozialdemokraten, der noch wenige Monate vor der Wende bei der „FDJ-Rockpoetentour“ in eben jenem Leipzig „den Höhepunkt meiner Karriere“ (Kunze) erlebte. 80.000 kamen damals zur Festwiese am Zentralstadion. Nicht wegen der Rolling Stones oder Rod Stewart, sondern seinetwegen. „Unvergeßlich“, schwärmt Kunze heute noch.

Natürlich, denn die fetten Zeiten, als die Westrocker im Osten abräumten und jeder Auftritt als Triumphzug endete, sind vorbei. Wie alle seine Kollegen backt auch Kunze heute kleinere Brötchen in kleineren Hallen. Die Eroberung der ostdeutschen Bühnen beginnt von vorne.

Wo der Kartenverkauf früher ohne jede Werbung nur durch Mundpropaganda lief und die in Rock'n'Roll-Angelegenheiten allgegenwärtige Freie Deutsche Jugend höchstens Probleme hatte, genügend große Freiflächen für ihre rockmusikalischen Riesenveranstaltungen zu finden, dümpelt das Geschäft im Jahr 2 der gesamtdeutschen freien Rockerei nunmehr nur noch traurig vor sich hin. Konzerte fallen mangels Nachfrage aus, Tourneen platzen. Selbst BAP — einst vom SED-Politbüro zum musikalischen Staatsfeind Nummer eins erklärt und dafür vom Fanvolk der DDR im geheimen geliebt wie keine zweite Kapelle — konnte bei ihrem langerwarteten ersten Auftritt nach sieben Jahren Verbannung trotz bescheidener Eintrittspreise nur dreiviertelvolle Hallen begeistern. Andere traf es noch härter. Wolf Maahn zum Beispiel, am 1. September 1989 in Dresden noch von 60.000 aus allen Ecken der DDR angereisten Fans gefeiert, bescheidet sich heute mit Auftritten in Vorstadtklubs. Karten an der Abendkasse.

Und „Brille“ Heinz Rudolf Kunze bucht weitsichtigerweise auch nicht mehr das Stadion für 10.000 Leute, wie zuvor noch in jedem Jahr seit 1987, sondern den zehnmal kleineren Disko-Tempel.

Nein, die alten Helden sind in den neuen Ländern nicht mehr gefragt. rüher als Stellvertreter auserkoren, die den alten Herren da oben mal so richtig die Meinung geigen sollten, haben die Rocker ihre Rebellenfunktion heute auch im Osten verloren. Was nützt da das nun richtig professionelle Konzertmanagement? Was nützen die Tausende bunter Plakate und hektisch ausgetüftelten Eintrittskarten-Gewinnspiele? Das Geschäft läuft einfach nicht mehr, seit auf den Bühnen alles erlaubt ist und kein Herrschender es mehr für nötig erachtet, Rocksängern besonders bissige Bemerkungen übelzunehmen. Nicht mal um die freigiebig verteilten Freikarten für Grönemeyer und BAP schlagen sich die Massen. Geschweige denn, daß sie Geld dafür ausgeben wollen.

Dabei: Konzertmüde können die Ossis einfach nicht sein. Im Vergleich zum Westteil Deutschlands ist das Angebot an Rockkonzerten in der Ex-DDR auch heute noch bescheiden. Viele der internationalen Branchengrößen nehmen den erweiterten Auftrittsmarkt schlicht und einfach nicht zur Kenntnis. Ob Bee Gees, ZZ Top, Paul Simon oder Sting, sie alle gastieren in München, Frankfurt, allenfalls noch in Saarbrücken oder Trier. Von Chemnitz, Dresden oder Cottbus ist nicht die Rede.

Zwar würde nun nicht mehr die lästige Ostmark das Konzertieren im Osten verhindern, doch mit ihrem Verschwinden verabschiedete sich auch der exotische Reiz deutsch-demokratischer Tristesse, der die „progressiven“ unter den internationalen Popstars von Dylan bis „Boss“ in den finalen Jahren der DDR gleich im Halbdutzend in das Land zwischen Oder und Elbe lockte.

Geblieben von der Exotik ist nur eine schlechte Infrastruktur mit baufälligen und viel zu kleinen Hallen, schlechten Backstage-Bedingungen und unerfahrenen örtlichen Veranstaltern, die zumeist identisch sind mit den früheren FDJ-Rockbüromachern. Dazu die neue Sparsamkeit, mit der das jugendliche Publikum seine Idole seit der Währungsunion zu überraschen pflegt: Oftmals sind plötzlich sogar die kleinsten Hallen viel zu groß. Also halten sich die Stars zurück, bedienen sie lieber den Westen wie üblich. Da weiß man, was man hat. Außerdem — die Wachstumsraten der Musikindustrie gerade in den fünf neuen Ländern sprechen für sich. Bei Platten, Kassetten, CDs und Videos muß man die Ossis gar nicht lange und livehaftig betteln, daß sie doch bitte bitte die neue Platte kaufen mögen. Da wird zugegriffen, ohne auf die Mark zu schauen. Kaum, daß die Plattenhändler noch mit dem Bestellen nachkommen.

In die zugigen Konzertsäle der FNL verirren sich dagegen fast nur noch falsche Heilige wie der Bradforter Punkpriester Dustin Sulivan, selbsternannte linke Avantgardisten wie Phillip Boa oder unverbesserliche Freiheitskämpfer wie Billy Bragg und die irische Sands-Family. Alles alte Bekannte. Ja, und natürlich die deutschen Oberrocker, die das Missionieren in den neuen Ländern wohl auch als eine Art nationaler Aufgabe begreifen und deshalb mal nicht so aufs Geld sehen. Niedecken, Maahn, Lindi, Gröni, Maffay oder Kunze: Auch wenn ersterer nach drei Monaten intensivster Werbung noch keine 10.000 Karten für das größte Open-Air-Festival der Saison verkauft hat. Gespielt wird trotzdem. Gespielt wird auch, wenn Maahns Pulloverhändler selbst mit geduldigstem Zureden kein einziges buntes Tour-Shirt verkaufen kann. Das ist man seinen alten Fans eben schuldig.

Die ostdeutsche Jugend erobert sich derweil lieber die Welt der Videotheken und Spielhallen, als sich den Liedern der durchweg einer gewissen Linkslastigkeit verdächtigen deutschen Sänger hinzugeben.

Rockmusikkonsum, gerade in der DDR eine durch und durch politische Ersatzhandlung, ist out, und mancher Jubler von früher fängt heute schon an, den Umjubelten von damals ihre „Kollaboration“ mit der FDJ übelzunehmen.

Nur Heinz Rudolf Kunze, unverbesserlicher Charmeur, der er ist, tröstet seine Getreuen nach drei Stunden schweißtreibender Bühnen- und Saalhopserei höflich: „Leipzig ist etwas Besonderes geblieben“, sagt er. Und beinahe könnte man es ihm abnehmen. Hieße es da nicht in irgendeinem seiner Uraltsongs: „Glaub keinem Sänger“... Steve Körner