„Wir sind den Roma etwas schuldig“

Ex-Ausländerbeauftragte Anetta Kahane klagt Rechte für einen anderen Umgang mit der Geschichte ein  ■ Aus Berlin Andrea Böhm

Irgendetwas war schiefgelaufen — genau vor einem Jahr. Millionen von Deutschen hatten am Bildschirm live den Aufstand der Rumänen gegen die Diktatur Ceausescus erlebt. Man hatte, angerührt von Bildern rumänischer Kinderheime, für das Elend weit weg gespendet — und plötzlich war es vor der Haustür. Ausgestattet mit Reisefreiheit und Pässen hatten sich nun auch die Rumänen — und unter ihnen viele Roma — auf den Weg in den Westen gemacht. Und Westen hieß erst einmal Berlin. „Wer selbst frei reisen kann, der muß damit rechnen, daß Reisende kommen“, entgegnete die gerade ernannte Ostberliner Ausländerbeauftragte Anetta Kahane Berliner Mitbürgern und Politikern in Ost und West, die angesichts bettelnder Frauen und Kinder in der Berliner City lauthals Einreisebeschränkungen forderten.

Im Westberliner Senat war man vor allem um eines bemüht: bloß nicht den Eindruck erwecken, Berlin könnte ein attraktives Anlaufziel für Roma oder Sinti werden. Notdürftig wurden Roma, Rumänen und Bulgaren in ehemaligen Stasi- und NVA- Kasernen untergebracht. Während sich einige wenige, darunter Anetta Kahane, um ein Mindestmaß an Verständigung zwischen den Einheimischen und den Fremden bemühten, bemühten andere rassistische Voruteile: Eberhard Diepgen, damals noch Oppositionsführer und heute Regierender Bürgermeister, beklagte öffentlich eine „deutlich geminderte Lebensqualität in Straßen und Vierteln“ aufgrund „großer und unerträglicher Trupps bettelnder Zigeuner“.

Inzwischen sind die meisten Roma wieder aus der Stadt verschwunden — zurück nach Hause, in andere Länder weitergezogen oder im Rahmen des Asylverfahrens in andere Bundesländer verteilt. Überfüllte Bahnhöfe, wie letzten Sommer, wird es dieses Jahr nicht geben, denn für Rumänen wie für rumänische Roma gilt: Wer einreisen will, muß eine Einladung vorweisen.

Für den Berliner Senat ist das Thema damit fürs erste erledigt — für Anetta Kahane nicht. Mehrere jugoslawische Roma-Familien, deren Asylanträge abgelehnt wurden, warten in Berlin seit Monaten auf eine politische Entscheidung, ob sie bleiben dürfen oder nicht. Für die Roma, die in den nächsten Monaten trotz Einreisehindernissen wieder aus Rumänien kommen werden, gibt es keine Unterkünfte. Man rechne nicht mit vielen, war aus der zuständigen Senatsverwaltung zu hören, aber wenn doch ein paar Tausend kommen, so ein Mitarbeiter, „dann wird's spannend“. Anetta Kahane, inzwischen Leiterin der vom Senat mitfinanzierten Regionalen Arbeitsstelle für Ausländerfragen (RAA), will eben diese Art von Krisenmanagement in einer aufgeheizten Stimmung vermeiden: „Wir brauchen endlich eine politische Haltung zu diesem Thema, die auch berücksichtigt, was die Deutschen diesem Volk angetan haben.“ Womit sie einen wunden Punkt anspricht.

In der öffentlichen Diskussion um die Aufnahme sowjetischer Juden in Berlin spielt die Geschichte des Nationalsozialismus sehr wohl eine Rolle. Geht es um Roma-Flüchtlinge, die nach Ansicht der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Rumänien und Jugoslawien ähnlichen Repressionen ausgesetzt sind wie die Juden in der Sowjetunion, schweigt man sich über den Mord an 500.000 Roma zwischen 1936 und 1945 beharrlich aus. Und keiner will sich jetzt, da sich Berlin wieder um Olympische Spiele bewirbt, an das „zentrale Zigeunersammellager“ in Berlin-Marzahn erinnern — von den Nazis im Mai 1936 errichtet, weil die Stadt zu Beginn der Olympischen Spiele „zigeunerfrei“ sein sollte. Wenn die Roma heute wieder aufgrund ihrer Armut als „Bettler“ und „klauende Banden“ über einen Kamm geschoren und ausgegrenzt werden, dann vermutet Anetta Kahane nicht nur fehlende Toleranz, sondern auch fehlende Auseinandersetzung mit dem Faschismus. „Wenn das eigene mörderische Verhalten mit dem Verhalten der Opfer gerechtfertigt wird“, sagt sie, „dann macht mich das wütend.“

Auf Initiative der RAA haben sich VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen sowie Berliner Roma und Sinti zu einem Förderkreis zusammengeschlossen. Nach dem Vorbild der Streetworker will man mobile Berater, Übersetzer und Vermittler auf die Straße, auf die Bahnhöfe und in die Notunterkünfte schicken. LehrerInnen, die mehrere Monate im Rahmen der Fortbildung bei der RAA arbeiten, sollen Informationen über die Situation der Roma an ihre Schüler weitergeben. Damit das Vorhaben nicht an den chronisch leeren Kassen scheitert, haben die diesjährigen Theodor-Heuß-PreisträgerInnen, allesamt RepräsentantInnen der DDR-Bürgerbewegung, das Preisgeld in Höhe von 20.000DM an die RAA gespendet. Konkrete Aufklärungsarbeit läßt sich damit leisten — nicht mehr und nicht weniger. „Das mindeste, was wir den Roma schuldig sind“, sagt Anetta Kahane, „ist eine differenzierte Betrachtungsweise.“