EUROFACETTEN
: Europa — eine Chance?

■ Alte Traditionen auf nationaler Ebene fortgeführt

Die Anliegen der Roma und insbesondere der Roma-Flüchtlinge müßten auf europäischer Ebene gelöst werden — so hört man in letzter Zeit oft von deutschen Politikern. Was ist davon zu halten? Zwischen 1969 — also zu einer Zeit, als in der Bundesrepublik das Verhältnis der Mehrheitsbevölkerung zu Sinti und Roma noch im Schatten der NS-Zigeunerpolitik dümpelte — und der zweiten Hälfte der achtziger Jahre haben Europarat, Ministerkomitee und Europäisches Parlament einige brauchbare Vorschläge zur Einrichtung von Standplätzen, zu Verbesserungen im sozialen und schulischen Bereich, zum Abbau von Diskriminierung und vor allem zur Zusammenarbeit mit den Vertretern der Sinti und Roma gemacht.

Hervorzuheben ist die Empfehlung, „staatenlose Nichtseßhafte“, die in Nordrhein-Westfalen zutreffender als „de facto- Staatenlose“ bezeichnet werden, durch eine „Rechtsverbindung mit einem Mitgliedsstaat“ abzusichern. Seit Jahren wird auf europäischer Ebene auf die Dringlichkeit von Lösungen für diese Menschen hingewiesen. Auf nationaler Ebene aber werden alte Traditionen fortgeführt: Kein Land — mit Ausnahme der Niederlande — will mit der Umsetzung der Empfehlung anfangen. Zur alten Tradition gehört auch die in Nordrhein-Westfalen ersonnene Schreibtischtat der Zwangsumsiedlung von weit über tausend „de facto- staatenlosen“ Roma und die von Baden-Württemberg praktizierte Massenabschiebung abgelehnter Asylbewerber in ein von politischem und wirtschaftlichem Verfall, von nationalen Spannungen und Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnetes Rest-Jugoslawien.

Jeder Verweis von Politikern auf „Europa“ bleibt Worthülse und Ausdruck provinziellen Unwillens, solange es keine aus der historischen Verpflichtung abgeleitete deutsche Eigenleistung gibt — etwa in Form begrenzter Kontingentierungen zugunsten der Roma-Flüchtlinge in unserem Land.

Wegen des Widerstands gegen die Empfehlungen und des Bürokratismus der EG- und KSZE-Gremien bietet Europa nur bedingt Lösungsansätze für aktuelle Probleme. Die Qualität des „Europäischen Hauses“ der EG und KSZE erweist sich aber auch am Umgang mit den Minderheiten. Sinti, Roma und Travellers sind als Streuminorität in einer politisch und gesellschaftlich schwachen Position. Die nationalen Politiker in West und Ost haben ihnen gegenüber jahrzehntelang versagt — von wenigen Ausnahmen abgesehen. Es sieht so aus, als müßten sie erneut gegen enorme Widerstände ankämpfen, wollen sie sich einen Platz im „Europäischen Haus“ sichern. Katrin Reemtsma

Die Autorin ist Roma-Koordinatorin der Gesellschaft für bedrohte Völker.