Brüssels Immigrantenkinder wehren sich

Kids führen Leben ohne Arbeit und Zukunft/ Erneute Straßenschlachten nach dem Tod eines jungen Marokkaners  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Prallvolle Müllsäcke kokeln vor sich hin, lodern jäh rotglühend auf, wenn unter befreiendem Gejohle Benzin darübergeschüttet wird. Schwarze Rußschwaden steigen dann beißend in die Nase, hüllen die Zündler für einen Moment ein, bis erneut ein frisch gemischter Molotowcocktail am Rande des Schauplatzes explodiert. In den Ladenfenstern reflektierendes Blaulicht und schrille Polizeisirenen bringen plötzlich Bewegung in die Gestalten. Blitzschnell verteilen sie sich in die umliegenden Gassen und Straßen. Der Aufstand der belgischen Underclass gegen Polizeiwillkür und Chancenlosigkeit, am Wochenende in den Vororten begonnen, hat inzwischen den alten Kern Brüssels erreicht.

Am Montag noch schien es, als ob die Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und meist schwarzen Jugendlichen aus Nordafrika und Ghana wieder zu Ende seien. Doch am Dienstag wurde die Leiche eines etwa 20jährigen Marokkaners an einer Bahnlinie am Stadtrand gefunden. Flugblätter verbreiteten flugs die Nachricht, er sei von der Polizei zu Tode geprügelt worden. Untersuchungen ergaben zwar keine Indizien dafür, als Auslöser für erneute Auseinandersetzungen langte der Tote jedoch allemal. Die explosive Stimmung unter den Einwanderern meist zweiter Generation wurde zusätzlich angeheizt durch die Ankündigung, die ausländerfeindliche Partei „Vlaams Blok“ würde trotz behördlichen Verbots ihre geplante Versammlung im Brüsseler Stadtteil Molenbeek durchführen.

Resultat: Die Demonstration gegen das Treffen der Rechtsradikalen auf dem Baptisten-Platz artete zu einer wilden Schlacht aus. Ein Gefangenentransporter der Polizei ging in Flammen auf, als er drei Verhaftete in ein Gefängnis bringen wollte. Ein Fernsehübertragungswagen wurde mit Steinen beworfen. Mindestens zwanzig Leute wurden verhaftet. Der Konsul von Marokko und belgische Politiker erschienen später auf dem Schlachtfeld.

Für Politiker wie den Brüsseler Ministerpräsidenten Charles Picque liegt die Erklärung für die Krawalle auf der Hand: Wie in Paris und anderswo hätten die Kinder der Immigranten, die meist in den 60er Jahren aus Nord- und Schwarzafrika nach Europa übersiedelten, die Nase voll von den Bedingungen, unter denen sie aufwachsen. Von autoritären Familienstrukturen gegängelt, ohne adäquate Ausbildung, ohne Chance auf eine Arbeit und geregeltes Einkommen vegetierten sie in einer Gesellschaft, die ihnen unerreichbare Ziele vorgaukelt. Deswegen fordern Sozialarbeiter und Vertreter von Immigrantenorganisationen, die Ausbildung zu verbessern, Arbeitsplätze zu schaffen und die Polizei für die Probleme der ausländischen Jugendlichen zu sensibilisieren. Das kommunale Wahlrecht auch für nichteuropäische Ausländer soll außerdem helfen, die Immigranten besser zu integrieren.

Solche Pläne passen jedoch den von Brüssel aus herrschenden Eurokraten nicht ins Konzept. Sie basteln zur Zeit an einer EG-weiten Ausländerpolitik, in der kommunales Wahlrecht für Nichteuropäer keinesfalls vorgesehen ist. Schon eher geben in Brüssel, dessen Politiker nicht müde werden, sich ihrer Internationalität zu rühmen, ausländerfeindliche Tendenzen den Ton an: Versammlungsverbot für Ausländer in Stadtteilen mit hohem Immigrantenanteil und die Ausweisung von Verhafteten gehören zu Versuchen, der brisanten Situation gerecht zu werden.