Fernsehen in der Sowjetunion

Die Erkenntnis, daß Fernsehen schnell zur Droge werden kann, ist so alt wie die Flimmerkiste selbst. Du hast dein Leben einfach nicht im Griff, wenn du deinen Fernseher nicht kontrollierst. Manchmal werden TV-Geräte sogar zu Killern. Im Februar waren in einem Leningrader Hotel 17 Menschen, darunter neun Feuerwehrleute, umgekommen, nachdem eine implodierende Glotze ein Inferno ausgelöst hatte. In der Sowjetunion wurden in den letzten zehn Jahren 2.134 Menschen von implodierenden Fernsehapparaten getötet. Wie die 'Prawda‘ jetzt enthüllte, entstanden bei den Unfällen außerdem Sachschäden in Höhe von mehr als 52 Millionen Rubel. Obwohl einige alte Modelle nicht mehr verkauft werden, stellen noch alle sowjetischen Fernsehapparate, vom schwarzweißen „Record“ bis zum farbigen „Electron 736“, ein erhebliches Risiko für die Zuschauer dar. Der Grund, warum die Apparate morden, steht längst fest. Das tödliche Problem seien mangelhafte Amplitudenregler, meint lapidar Alexander Woronin, Ingenieur am Forschungsinstitut für Fernsehen.

Viele Jugendliche in der sowjetischen Provinz sind auf den Fernsehapparat angewiesen, um wenigstens ab und zu ihre Liebsten zu sehen. „Iwan Kusmitsch Poloskow ist der einzige, dem mein Herz gehören kann“, schrieb die 17jährige Tanja aus Kineschma an der Wolga und meint damit den orthodoxen Chef der russischen Kommunisten. „Er ist der charmanteste und bezauberndste Mann in der Welt“, schwärmt sie, „leider kommt er in unserem Fernsehen zu kurz.“ Anhand solcher Leserbriefe hat die Zeitung des kommunistischen Jugendverbandes, 'Komsomolskaja Prawda‘, einen neuen Trend ausgemacht: Die sowjetischen Teenager haben ihre Liebe zur Politik entdeckt. Absolute Spitzenreiter sind natürlich Michail Gorbatschow und Boris Jelzin.

„Ich liebe Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Wir werden uns nie begegnen, aber ich kann mich nicht zwingen, ihn zu vergessen“, schrieb die 15jährige Natascha aus Leninabad in Mittelasien. Ihre Altersgenossinnen Marina und Lena aus Murmansk brachten die Probleme vieler auf einen Nenner: „Denkt ihr, es ist leicht, den Präsidenten zu lieben?!“ Diese Frage kann eindeutig mit Nein beantwortet werden. Eine junge Jelzin-Verehrerin aus Moldawien, die sich „aus Angst vor Untreue nicht einmal einen Freund“ leistet, beschrieb, wie sie die Glotze als Adapter nutzt: „Wenn er im Fernsehen spricht, küsse ich den Bildschirm und weine.“ Karl Wegmann