INTERVIEW
: „Die Interessen der Betroffenen haben Vorrang vor den Interessen der Regierung“

■ Die innenpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Grüne, Ingrid Köppe, zu den parteiübergreifend vereinbarten Grundsätzen über den weiteren Umgang mit den Stasi-Akten

taz: Frau Köppe, die Fraktionen im Bundestag haben sich mit Ausnahme der PDS auf Eckwerte für den zukünftigen Umgang mit den Stasi-Akten verständigt. Die Stichworte sind Auskunfts- und Einsichtsrecht für Stasi-Opfer und begrenzter Zugang für Stafverfolgungsbehörden und Nachrichtendienste. Wie lebt es sich mit dieser Lösung?

Ingrid Köppe: Es gibt bei den Eckwerten nach wie vor mehr Dissens- als Konsenspunkte. Sie sind mehrheitlich gegen unsere Vorstellungen festgelegt worden. Den Dissens gibt es besonders bei der Frage der Zugriffsmöglichkeiten der Behörden wie etwa der Stafverfolgungsbehörden auf Unterlagen von Betroffenen. Wir gehen davon aus, daß diese Behörden nur auf Anfrage bzw. mit Zustimmung der Betroffenen den Zugriff auf diese Unterlagen haben dürfen. Das ist abgelehnt worden. Dissens gibt es auch in der Frage, ob Nachrichtendienste mit den Stasi-Akten arbeiten dürfen. Wir wollen die Unterlagen für sämtliche Geheimdienste gesperrt sehen. Gegen unseren Willen sind auch die geplanten Aussonderungsmöglichkeiten für die Nachrichtendienste vereinbart worden. Der Entwurf des Innenministeriums sieht vor, daß sämtliche Unterlagen, die einen Zusammenhang mit der Arbeit der Nachrichtendienste des Bundes und der Länder haben, aus den Archiven herausgenommen werden können. Das bedeutet, ein ganzer Teil des Aktenbestandes wird aufgelöst und geht damit für die Aufarbeitung verloren.

Das, was sich das Innenministerium unter Aufarbeitung vorstellt, ist mehr von den Interessen der Bundesrepublik als von den Interessen der Stasi-Opfer geprägt. Weiter ist die organisatorische Struktur umstritten, die die Stasi-Aktenbehörde bekommen soll. Das BMI will eine zentrale Bundesbehörde, wir dagegen haben ein Bund-Länder-Modell vorgeschlagen und uns dabei an den Vorstellungen der Bürgerkomitees orientiert. Eine Zentralstelle hat den Nachteil, daß die neuen Bundesländer bei der Verwaltung der Akten so gut wie kein Mitspracherecht haben.

Wie kommt es bei soviel Dissens dazu, daß die Bündnis-Politikerin Köppe nach der Bundespressekonferenz vor zwei Wochen dahingehend zitiert wurde, sie hätte zwar Bedenken, könne im großen und ganzen die Vereinbarungen aber mittragen?

In den Verhandlungen zuvor habe ich den anderen Fraktionsvertretern deutlich gesagt, welche der einzelnen Punkte ich mittragen kann — wie beipielsweise das Akteneinsichtsrecht — und welche nicht. Man hat mich immer wieder darauf verwiesen, daß die offenen Fragen später noch im Gesetzgebungsverfahren geklärt werden können. Bei der anschließenden gemeinsamen Pressekonferenz habe ich ebenfalls erklärt, wo bei uns Konsens und wo schwere Bedenken bestehen. Wir haben die anderen Fraktionen aufgefordert, die umstrittenen Punkte bis zum Gesetzentwurf zu klären.

Das heißt wohl, daß der Wille, ein Stasi-Aktengesetz im übergreifenden Konsens zu verabschieden, im Gesetzgebungsverfahren scheitern wird?

Ich denke, daß sich in dieser Woche entscheiden wird, wer einen Gesetzentwurf einbringt. Wenn dieser im wesentlichen so aussieht wie die Eckwerte, werden wir ihn nicht unterstützen können.

Nach dem Mordanschlag auf Treuhandchef Detlev Rohwedder und der jüngst aufgeflogenen RAF-Stasi- Connection gibt es aber keine Mehrheit mehr dafür, die Geheimdienste generell vom Zugriff auf die Stasi-Akten auszuschließen. Die Sozialdemokraten haben bereits zugestimmt, daß Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst in die Unterlagen der Abteilungen Auslandsspionage (HVA), Spionageabwehr (II) und Terrorismusbekämpfung (XXII) einsehen dürfen...

Der Zugriff für die Geheimdienste ist eine politische Frage. Wir wollen nach wie vor, daß sämtliche Geheimdienste aufgelöst werden. Von daher ist es unvorstellbar, daß wir ihren Zugriff auf Stasi-Unterlagen zulassen können. Außerdem haben wir immer gefordert, das Stasi- Material vollständig offenzulegen — natürlich auch das, was beipielsweise die Hauptabteilung XXII angelegt hat.

Wenn ihr im Sinne einer politischen und historischen Aufarbeitung fordert, die Stasi-Unterlagen weitgehend öffentlich zu machen, warum versteift ihr euch dann gegen den Zugriff etwa des Verfassungsschutzes. Die von ihm geforderten Unterlagen wären demnach doch sowieso frei zugänglich?

Das ist ja das Interessante. Die Offenlegung des Materials ist in keinem der Entwürfe des Innenministeriums vorgesehen. Selbst für den Bereich Forschung/Aufarbeitung fehlt der wesentliche Satz, daß die nicht-personengebundenen Unterlagen öffentlich sein müssen. Wären diese Akten öffentlich zugänglich, wäre es in der Tat egal, wer alles da reinschauen kann. Es ist aber vielmehr vorgesehen, daß in einzelne Unterlagen nur die Geheimdienste Einblick erhalten sollen. Das geht soweit, daß Geheimdiensten die Möglichkeit gegeben werden soll, Material auszusondern.

Wie soll das Akteneinsichts- und Auskunftsrecht praktisch und bürokratisch umgesetzt werden. Wenn nach der Verabschiedung eines Stasi-Unterlagengesetzes in den folgenden Monaten vielleicht Hunderttausende entsprechende Anträge einreichen, dauert es Jahre, diese Flut zu bewältigen. Und wenn man den Schutz der Interessen Dritter ernst nimmt, wer soll die Akten daraufhin sichten und entscheiden, was dem einzelnen Antragsteller vorgelegt werden kann?

Den Aufwand zu scheuen, ist kein Argument. Vorrang hat das Interesse der Betroffenen, und da muß dieser Aufwand einfach betrieben werden. Wenn es erst einmal das Einsichtsrecht gibt, wird es den meisten klar sein, daß es die Akteneinsicht nicht innerhalb eines Monats geben kann. Ich glaube, daß unser Vorschlag einer dezentralen Verwaltung der Sonderbehörde da auch hilfreich sein kann. Dabei wird auch das Problem der personellen Ausstattung der Sonderbehörde deutlich. Ausgehen sollte man auch davon, daß nicht alle in ihre Akten sehen wollen. Es muß auch die Möglichkeit geben, einen Antrag auf Auskunft zu stellen, die dann die Nennung der Stasi-Mitarbeiter und Spitzel beinhalten muß. Bei der Einsichtsregelung muß natürlich sichergestellt werden, daß sie technisch und personell bewältigt werden kann. Notwendig wird auch eine rechtliche Beratung sein — zum Beispiel, wenn einer in der eigenen Akte strafrechtsrelevante Vorgänge findet.

Die Gauck-Behörde sieht das aber anders. Dort wird argumentiert, für eine umfassende Auskunft müsse entlang der hierarchischen Strukturen des ehemaligen MfS in den verschiedenen Archiven recherchiert werden. Deshalb sei eine zentrale Verwaltung nötig. Wer in Rostock lebt, muß seine Akte nicht unbedingt in Rostock finden. Darüber hinaus, so heißt es, ließen sich bei einem Ländermodell weder ein einheitliches Auskunftsverfahren sicherstellen, noch parteipolitische Interessen ausschließen.

Eine dezentrale Verwaltung schließt nicht aus, daß auch in den anderen Außenstellen des früheren MfS nachgefragt wird. Und wenn man die Verwaltung der Archive zur gemeinsamen Sache von Bund und Ländern erklärt, läßt sich eine gesetzliche Grundlage schaffen, die sowohl für die einzelnen Bundesländer als auch für das Zentralarchiv in der Berliner Normannenstraße verbindlich ist.