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Das rote Tor am Ende der Straße

■ Der Mai ist Aktionsmonat in der Moabiter Kulturfabrik LehrterStraße

Betritt man die Lehrter Straße von der Invalidenstraße aus, zeigt sie sich von ihrer verschlafensten Seite. Rechts ein unförmiger Betonquader, mißglückter Versuch eines Architekten, Autos eine Heimstatt zu geben, links ein grauer Wohnturm, Zeugnis einer an keiner Ästhetik orientierten Wiederaufbauphase. Wir sind irgendwo im Nirgendwo Berlins, doch dann macht die Straße einen Knick, und ein Mehrerlei tut sich auf. Kleinstgärten mit Kleintiergehegen vor der Kulisse gigantischer gelber Verladekräne des Containerbahnhofes und ein altes Garnisonsgebäude, multikulturell bewohnt zur Rechten, gefolgt von einigen bunten oder zerfallenen Mietshäusern. Zur Linken liegt Gerümpel, die Auffahrt zum Poststadion und die nicht enden wollende Fassade der Frauenhaftanstalt in vergittertem und rötlich-schwarzem Klinkergewand. Das Gesamtbild wirkt wie ein weder zusammenpassendes, noch aus dem Rahmen fallendes Sammelsurium von urbanen Gegenständen, die keiner mehr lieb hat und die deshalb hier herumstehen wie in einer Abstellkammer: Moabit.

Im letzten Drittel der Lehrter Straße dann, zwischen Krupp- und Perleberger gelegen, ist dann das wirklich verschrieene Ende erreicht. Hier liefen lange die dunklen Fäden Moabits zusammen, hier stachen Verwahrlosung, Drogen- und Gewaltkriminalität in's Auge, hier wurde der ohnehin nicht gut Ruf der Lehrter Straße vollends runiert. Und trotz lebhafter Bewohnerschar, Kiezkunst und alternativer Videohandlung gelang es den Lehrteranern nicht, im Ansehen der Subkulturschürfer Berlins zu steigen; man blieb unter sich.

Aber von einem schönen alten Fabrikgebäude leuchtet es signalrot über die Straße, die große Flügeltür steht einladen weit offen, auf ihrer einen Seite schimmert grün Kultur, auf der anderen Fabrik. Ein offenes, öffentliches Gebäude in dieser von Gefängnissen und Polizeikasernen verseuchten Gegend, eine Kulutrfabrik?

In einer riesigen gekachelten Halle im Erdgeschoß erfährt man mehr. Lehrteraner sitzen beisammen mit Kaffee und Kuchen und halten Kiezklatsch. Die berühmte »Oma«, die in Artikeln zu jeder Art Alternativveranstaltung und Demo herbeigeschrieben wird, die sitzt hier tatsächlich mitten in der Runde und erzählt. Was wir heute schon verpaßt hätten, am Muttertag, der gleichzeitig Erzähltag für Senioren gewesen sei. Ein Chor habe gesungen, in den Hallen der ehemaligen Heeresfleischerei, in der später auch mal Kekse fabriziert wurden.

Clara Franke wohnt seit 57 Jahren in der Lehrter Straße. Sie weiß genau Bescheid über die Situation der Straße, die städtebaulichen Plaungen und den kalkulierten Verfall. Seit 17 Jahren stand das Gebäude, in dem wir sitzen, leer. Erst S.T.E.R.N., die Gesellschaft für behutsame Stadterneuerung Berlin, durfte den Hallen, die wie viele Häuser der Straße dem Grundstücksamt gehören, neues Leben einhauchen. Die dort von S.T.E.R.N. organisierte Ausstellung über die Geschichte der Lehrter Straße zeigte der Öffentlichkeit, was den Anwohnern seit Jahren bekannt ist: Die Abgrundsituation der Lehrter Straße hat Geschichte, die Verwahrlosung hat System.

Die Flächennutzungspläne seit Kriegsende haben die Straße meistenteils als »Bauvorhaltefläche« angesehen. Ihre Zukunft schwankte zwischen Autobahngelände und Parkplatz, neuerdings ist auch eine Wartungsanlage für Intercityzüge im Gespäch. Die Bewohner und ihre Interessen wurden nie miteinkalkuliert, der Verfall sollte sie vertreiben. Zwangsumsiedlungen waren an der Tagesordnung, damit der Abriß der ungeliebten Straße stattfinden konnte.

Als die S.T.E.R.N.-Ausstellung auszog, bot sich eine Übernahme der Räumlichkeiten für die organisierten Kiezbewohner an. Die fand auch statt, nur bis heute ist ungeklärt, ober der von den Nutzern gegründete Verein Kulturfabrik dazu auch berechtigt ist. Die plausible Forderung des Vereins, dessen 25 Mitglieder momentan die wichtigsten Unkosten mit einem Beitrag von 33 DM pro Monat decken, steht jedenfalls schwarz auf weiß fest: Nutzung der zahlreichen und meist riesigen Fabriketagen als Arbeitsräume für die in der Straße ansässigen Künstler, als Veranstaltungsort für ein vielfältiges Kulturprogramm mit Veranstaltungen von Künstlern aus angrenzenden Bezirken und für die ausländischen Mitbürger der Straße.

Seit einem Monat ist das signalrote Tor geöffnet, seit einem Monat steht ein Veranstaltungsprogramm in den Räumen Café und Galerie und in dem Kino, das der eigenständigen Verein Filmrausch e.V. im hinteren Gebäude eröffnet hat. Der Mai wurde zum Aktionsmonat erklärt, mit dem allgemeine Aufmerksamkeit auf die Kulturfabrik Lehrter Straße gezogen werden soll. In den ersten Wochen haben Lehrteraner das Vorrecht, sich in der Fabrik auszustellen, dann werden umliegender Kiez und angrenzende Bezirke mitberücksichtigt.

Daß es an Vorzeigbarem in der »Kulturwüste« nicht mangelt, beweisen die Objekt- Installationen von Steffen Maschke hinter Glas im Erdgeschoß und die Malerei und Raum-Kunstwerke von Stefan Hofer und Günther Albien in der Galerie im ersten Stock. Fleischfarben bis grau, hin und wieder körperliche Reste einer Taschenlampe, die das Leuchten aufgegeben hat, so präsentieren sich Hofers Bilder an den farblich geistesverwandten Kachelwänden. Einige regenbogenfarbige Malereien im Eingangsbereich machten schon auf die nächste Ausstellung von Frank Ditton aufmerksam, die am 16. Mai eröffnet wurde.

Inzwischen ist eine türkische Woche eingeläutet worden, in der das Kindertheater Karagöz, türkische Filme und Musik der Gruppen Sidik Dogan und Grup Aserbeidschan angekündigt sind. Hervorragend eignet sich die Fabrik für Konzerte, deren Auftakt die Gruppe Afrima machte. Am letzten Maiwochenende schließlich findet ein Rockfestival statt, auf dem sich acht Bands aus der näheren Umgebung und der Tonmeister SAE aus der Lehrter ohne finanzielle Gegenleistung abrackern werden.

Selbst der Filmrausch e.V., dessen acht Mitglieder das bislang einzige (!) Kino in Moabit zustande bringen konnten, hat sich einen Schwerpunkt »Lehrter Straße« erarbeitet. Am 20. und 21. Mai laufen Wenders »Himmel über Berlin« und das Kommentarspiel »Die Akte Wittkau« von 1964, in denen keine geringere als die Lehrter mitspielt. Ihr apokalyptisches Straßenbild gab schon für diverse Filme eine ausgezeichnete Kulisse ab.

Durch die wandeln wir zurück, begleitet von Chicken de Luxe und Karate Kid von Pro 7. Eine Polizeistreife macht ihren üblichen Weg ums Justizkarree. Aber der Besuch in der Kulturfabrik wirkt noch angenehm nach. Um die Moabiter braucht man sich keine Sorgen zu machen. Barbara Schäfer

Die Musik-, Film- und Kunst-Veranstaltungen sind dem Programm des jeweiligen Tages zu entnehmen.

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