Protokoll einer vaterlosen Generation

■ Ferdinand Bruckners »Krankheit der Jugend« im Ensemble Theater am Südstern

Der Verführer, die Verdorbene: Petrell und Lucy(Foto:story press - jochen clauss)

Das ganze Durcheinander beginnt mit einer mißglückten Promotionsfeier im Hause Schimmelbrot. Im Pensionszimmer der Medizinstudentin Marie — dem einzigen Ort der Handlung — erobert die strebsame Freundin Irene den lauwarmen Dichter Petrell. Dieser ist Maries langjähriger Freund gewesen. Derart partnerlos geworden erhört die Verschmähte endlich die lesbische Liebe ihrer Zimmernachbarin Desirée, einer mit dem Leben und der Liebe und der Lust reichlich herumexperimentierenden Jung-Aristokratin. Deren ausschweifende Lebensgangart führt konsequent zum veronalen Suizid und Marie — zum zweiten Mal verlassen — überläßt sich dem Bürgerschreck und Triebtier Freder, einem nur noch seinem eigenen Zynismus huldigenden Studenten der ewigen Immatrikulation: der nebenbei noch das Stubenmädchen Lucy verführt hat — erst zum Diebstahl und dann zur Prostitution.

Diese so schön unmoralische Beziehungsverquickung nennt sich »Krankheit der Jugend«, entstammt der Feder Ferdinand Bruckners — alias Theodor Tagger — und wollte 1926 so etwas wie eine Zeitdiagnose sein. Das schmerzliche Protokoll einer durch den Ersten Weltkrieg führer- und vaterlos gewordenen Generation der Zwanzigjährigen, die sich zwar noch bildeten und brav studierten und auch ihre Reifeprüfung gern noch fröhlich feiern wollten, doch den festen Halt, das große Ziel längst verloren hatten.

Bruckners Portrait ist harsch, seine Analyse oberflächlich. Sie läßt den Gründen wenig Platz, räumt das Feld den Folgen und stellt diese lustvoll aus. Ohne äußeren Wert und sozialen Sinn wird der junge Mensch hier ganz auf sich zurückgebogen und da herrscht wild allein der Trieb. Sexuelle Gier, lesbische Liebe, Sehnsucht nach Prostitution — all das begehrt zwar auf gegen die bürgerliche Moralverkrampfung, doch ist es nicht provokativ, und so dient es nur der mitleidigen Draufsicht und wird gar schnell ins Pathologische abgedrängt. Kein Befreiungsdrama also, kein Wedekindsches Erwachen im erotischen Frühling pubertären Aufbegehrens, sondern ein mescalindurchtränktes Auf-der-Stelle-Treten im melancholisch gestimmten Gefühlssumpf intellektueller Selbstzerfetzer. Das bürgerliche Publikum goutierte das: Voyeurismus machte das Ding zum Hit.

Im Ensemble-Theater am Südstern sind die Figuren ganz der Jetzt-Zeit anverwandelt: im modischen Outfit dürfen sie die elegante Postmoderne feiern, als wär's ein Stück von Botho Strauß. Regisseur Thomas Holländer hat der Story nicht getraut und das ursprüngliche Milieu ganz aufgelöst. Im weiß getünchten Flur, klinisch clean und karg möbliert, bekommt das Seelendrama nur abstrakte Kontur. Ein Typenprotokoll, entnommen der höheren Boulevardkomödie. Immerhin, dankbares Spielfutter für die durchweg guten Schauspieler.

Da ist der verkappte Bürgerschreck Freder. Ein Schleimbolzen sondergleichen. Udo Rau mit Machobärtchen und Ledergarnitur trägt dick jene zynische Lässigkeit auf, die jeder kennt und keiner mag. Der Möchtegern-Dichter Petrell hingegen ist der Softy aus der letzten Reihe. Falk Walter macht den Spitznamen Bubi glaubhaft. Ein running gag in Schlotterhosen. Bleibt noch der Moralphilister Alt — ein elegantes Aperçu. Pedro Sobisch gibt's schleimig eklig aufgesetzt.

Das Typenbild der Weiblichkeit ist etwas differenzierter. Die Bürgertochter Marie ist bei aller Tatkraft doch verletzbar. Cay Helmich gibt sich stoisch, ist spröde und zärtlich, nüchtern und verträumt und sieht aus wie Romy Schneider in einer fühligen Boulevardkomödie auf französisch. Die nicht nur lesbische Gräfin Desirée ist fraglos der luzide Glanzpunkt der allgemeinen Triebverwirrung. Irmelin Beringer lebt das leicht, aber mit Nachdruck aus. Die Vergeblichkeit einer unbestimmten Sehnsucht trifft sie am besten. Marina Behnke als biestige Streberin und Katja Salm als schicke Hausgehilfin dürfen von einer proletarischen Herkunft nichts mehr zeigen. Das macht sie allzu eindimensional in ihrer kühlen Seelenhaltung.

Alle Gesichter aber tragen die Maske lächelnder Unverbindlichkeit und falschen Gelächters. Emotion und Leidenschaft bleiben unter cooler Oberfläche. Jedes Zusammentreffen, jeder Dialog ist ein frostig-kühles Abtasten mit spitzem Wort und spitzen Fingern. Drum ist Handschuhtragen Pflicht: bei jeder Berührung droht der Eisbrand.

Die Hingabe an die Triebwelt ist hier nicht mehr pathologischer Verzweiflungsakt, sondern eine fast schon durchschnittlich zu nennende Zustandsbeschreibung einer jugendlichen High Society, die es ob schnödem Egoismus in pekuniärer Abgesichertheit nicht nötig hat, die Schwelle zur verbindlichen Verantwortung zu überschreiten. Das Typenbild stimmt, doch ist es allzu eng gewählt. High macht cool, doch Cool nicht immer high.

Für eine schneidende Analyse in revoltierender Absicht taugt das nicht. 1968 verkürzte Jean-Marie Straub den Stoff aufs Wesentliche. Das ergab den Film »Der Bräutigam, die Komödianten und der Zuhälter«. Die Spielzeit: ganze 10 Minuten. baal

»Krankheit der Jugend«, Do-Mo, 20.30, Ensemble Theater am Südstern