Vom »Damenrestaurant« zur Berufsfachschule

■ Kleine Geschichte des Lette-Vereins am Viktoria-Luise-Platz: Im Jahr 1866 gründeten 300 preußische Männer einen Verein zur Förderung der Erwerbstätigkeit unverheirateter Frauen/ Heute bildet der Lette-Verein hochqualifizierte Frauen und Männer aus

Schöneberg. Berlin im Jahre 1866: 300 preußische Männer beschließen die Gründung eines Frauenvereins. Doch der »Verein zur Förderung der Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts« hat nicht etwa die Befreiung des weiblichen Geschlechts zum Ziel. Weit gefehlt: »Was wir nicht wollen, ist die politische Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen«, heißt es in einer Veröffentlichung. Vielmehr ging es den netten Herren darum, jenen bemitleidenswerten Gechöpfen, die nicht in dem »höchsten Beruf als Mutter und Hausfrau« aufgehen durften, also den »unverheirateten Frauenzimmern«, eine eigenständige Erwerbstätigkeit zu ermöglichen.

Ausbildung für Frauen im Kaiserreich

Immerhin: So fragwürdig die Zielsetzung aus heutiger Sicht erscheinen mag, hatten doch Frauen durch die Gründung des Vereins fortan die Möglichkeit, eine Ausbildung in Handel und Gewerbe sowie als Schneiderin, Zeichnerin, Setzerin und Telegraphistin zu machen, was im damaligen Kaiserreich bis dato undenkbar gewesen war. Und der Gründer des Vereins, Wilhelm Adolf Lette, wußte durchaus um die Bedeutung und Folgen von Bildung und Ausbildung für Frauen.

Heute, 125 Jahre später, ist der Lette-Verein am Schöneberger Viktoria-Luise-Platz ein Synonym für fortschrittliche und moderne Ausbildungsbetriebe: Er ist Träger dreier Berufsfachschulen für Technische Assistenten in der Medizin sowie für Fotografie, Grafik und Mode ebenso wie einer Lehranstalt für Pharmazeutisch-Technische Assistenten. Inzwischen werden ebensoviele Frauen wie Männer hier auf den Schritt in die Berufswelt vorbereitet. An preußische Zeiten erinnert heute lediglich noch die »Hauswirtschaftliche Berufsfachschule«, in der nach wie vor überwiegend Frauen unterrichtet werden.

»Der Frau ihre Arbeit!«

Nach dem Bestreben, unverheiratete Frauen nicht sämtlich zu Almosenempfängerinnen werden zu lassen, hielten die preußischen Väter des Vereins nämlich auch die »fraulichen« Fähigkeiten im Haushalt nicht mehr für naturgegeben: So lernten die Schülerinnen in Berlins Zentrum (Mitte) zu waschen und zu servieren (selbstverständlich im vereinseigenen Damenrestaurant). Richtiggehend revolutionär trat der Verein dann zu Beginn dieses Jahrhunderts auf: »Der Frau ihre Arbeit!« steht da in einer Werbeschrift geschrieben. Nach dem Umzug von Mitte in den herrschaftlichen Neubau am Viktoria-Luise-Platz im Jahre 1902, wurden in der Handelsschule auch Frauen in Büroberufen ausgebildet.

Ausbildungsbetrieb für höhere Töchter

Spätestens jetzt wurde eine Männerdomäne tatsächlich gebrochen. Außerdem wurden künftig auch Buchbinderinnen und Photographinnen sowie Röntgenassistentinnen geschult. Das Auffangbecken für unverheiratete Frauen mauserte sich zu einem anerkannten Ausbildungsbetrieb für höhere Töchter. Wenig später hielten dann die ersten Männer Einzug: Seit 1910 bildet der Verein auch Photographen aus. Stutzig macht heute noch der 1987 veröffentlichte Kommentar zu dieser Entwicklung von Lette-Verein-Leiter Hans-Dieter Fussan: »Dieses Erfinden neuer Berufe war so erfolgreich, daß die Ausbildungen des Lette-Vereins schon Anfang dieses Jahrhunderts auch Männern eröffnet werden konnten.« Ist Frauenausbildung eine »Zweite-Klasse-Ausbildung«?

Nach Aufnahme des ersten männlichen Schülers hatte der Lette-Verein bis zu seiner endgültigen Verabschiedung vom Prinzip der Frauenausbildung noch zwei Weltkriege zu überstehen, davon den zweiten mit inneren wie äußeren Blessuren: Die Gebäude wurden größtenteils zerstört, außerdem bemächtigten sich die faschistischen Machthaber in Teilen der Ausbildungsstätte zur Durchsetzung des nationalsozialistischen Frauenideals. Nach 1945 wurde auch am Viktoria-Luise-Platz wiederaufgebaut. Heute bildet der Verein 1.200 Männer und Frauen in hochmodernen Labors in Handwerk, Kunst sowie für die technische Assistenz in Wissenschaft, Medizin und Technik aus. Seine Fortschrittlichkeit, aber auch seine Geschichte präsentierte der Lette-Verein aus Anlaß des 125jährigen Jubiläums soeben an zwei Tagen der offenen Tür. Jeanette Goddar