Mitterrand hofft auf einen zweiten Frühling

Frankreichs Staatspräsident Mitterrand wechselt seinen Premierminister aus — und erhofft sich davon einen erneuten Sieg der Sozialisten in zwei Jahren/ Michel Rocard galt als fleißig und modern — Edith Cresson soll den „neuen Elan“ verkörpern  ■ Aus Paris Alexander Smoltczyk

Sie war wieder angerichtet am Mittwoch morgen, jene politische Ursuppe aus Indiskretionen, Gerüchten, Dolchstoß-Sätzen und Spekulationen, in der sich ein fintenreicher Politiker florentinischen Typs wie Fran¿ois Mitterrand wohlfühlt. Während im Matignon-Palast schon die Umzugskartons herumgeschleppt wurden, erklärten da gestandene Minister in Auftritten, die der „Comédie Fran¿aise“ würdig wären, sie wüßten gar nicht, was das Gerede um einen möglichen Rücktritt Rocards solle. Dabei galt es seit Anfang des Jahres als ausgemachte Sache, daß Mitterrand sich von seinem Premier trennen würde, um seiner verbleibenden Amtszeit neues Profil zu verschaffen.

Doch selbst der Präsident suchte in seiner Fernsehansprache am Mittwoch abend die Spuren zu verwischen: „Herr Rocard hat mir seinen Rücktritt erklärt“, hieß es da — als sei der Austausch eines Premiers mitten in der Legislaturperiode nicht die alleinige Entscheidung Mitterrands. Bereits in seiner ersten Amtszeit hatte Mitterrand zu dem alttestamentarischen Mittel des Sündenbocks gegriffen, hatte den getreuen Premier Pierre Mauroy mit allen seinen eigenen politischen Sünden beladen und in die Wüste geschickt. Ein Premierminister — das ist in der Verfassung der V. Republik ein rechtloser Präsidentenknecht, der vor allem als beliebig auswechselbare „Sicherung“ des Präsidenten zu dienen hat. Damals, nach dem Scheitern des sozialistischen Projekts, hatte Mitterrand gehofft, mit einem jungen, glatten und aufs Wort gehorchenden Premierminister Fabius das drohende Debakel bei den Parlamentswahlen abwenden zu können.

Mitterrands Angst vor den nächsten Wahlen

Was Laurent Fabius 1986 nicht gelang, soll Edith Cresson in den kommenden zwei Jahren schaffen. Vor nichts graust es Mitterrand so sehr wie vor einer neuen „Cohabitation“ mit den Konservativen, falls die Sozialisten die Wahlen 1993 verlieren sollten. Mit Rocard, so fürchtet Mitterrand, wären die Wahlen verloren. Aller Erfahrung nach hat ein Premier nach fünf Jahren zu schmutzige Hände, als daß er noch erfolgreich als Wahlkampflokomotive eingesetzt werden könnte. Zumal die nächsten zwei Jahre wenig Raum für politische Profilierung lassen werden: die Arbeitslosigkeit von zur Zeit 2,7 Millionen steigt weiter, Staatshaushalt und Sozialversicherung stark defizitär.

Insofern auch für Rocard kein schlechter Augenblick, Matignon zu verlassen, bevor die am Golf und anderswo errungenen Lorbeeren verwelken.

Zwar wäre er, so heißt es, gerne noch bis 1993 Regierungschef geblieben, um einige Strukturreformen weiterzutreiben. Doch seine politischen Freunde raten ihm, die nächste Zeit lieber zu nutzen, sich unbeschwert vom Alltagsgeschäft des Regierens auf die Nachfolge Mitterrands vorzubereiten: also ein Buch schreiben, gelegentlich abgeklärte Kommentare unters Pressevolk streuen, dann und wann eine kleine Idee... Die Meinungsumfragen jedenfalls errechnen ihm zur Zeit noch die besten Chancen, einen Kandidaten der Rechten 1995 schlagen zu können.

Trotz aller Versuche ist es Mitterrand in den drei Jahren nicht gelungen, seinen traditionellen Konkurrenten wie ursprünglich geplant zu verschleißen. Und auch als Sündenbock ist er weniger tauglich als der stämmige Pierre Mauroy seinerzeit. Aus all den Spenden- und Justizaffären, die den Sozialisten anhängen, konnte sich Rocard heraushalten. Im Gegenteil: In Erinnerung bleiben wird er als Politiker, dem es trotz aller Fußangeln aus dem Elyśee-Palast gelungen ist, einen eigenen Stil des Regierens zu prägen.

Michel Rocard: Emsig wie ein Goldhamster

Mit der Emsigkeit eines Goldhamsters hat sich Rocard darangemacht, all jene Altlasten des 19. Jahrhunderts zu benagen, die auf der französischen Gesellschaft lasten: den Zentralismus, den Korporatismus, den fossilen Beamtenapparat, den Kolonialismus — kurz: den Staat. Immerhin war der Premier einer der Wortführer im Pariser Mai 68 gewesen. Der Staat sollte nicht mehr regieren, wie es die jakobinische Linke um den ehemaligen Verteidigungsminister Chevènement fordert, und auch nicht wirtschaftsliberal — weniger —, sondern besser.

Typisch für Rocard ist die Verwaltungsreform, die noch im April beschlossen wurde. Den lokalen Körperschaften wird der Zentralstaat mehr budgetäre Vollmachten einräumen, und: „weniger, aber effizientere und deswegen auch besser bezahlte Beamte“ sollen den Bürger bedienen. Rocards Vorschlag für die ebenso unterbezahlte wie überforderte und deswegen stets streikbereite Staatsdienerschaft.

Aber Rocard war nicht nur ein Anhänger der Idee einer „Zivilgesellschaft“, sondern als Finanzinspektor auch Produkt der Pariser Eliteschulen — ein überzeugter Technokrat, der an die Möglichkeit konfliktfreien Regierens glaubt. In seine Regierung holte er sich knapp zwei Dutzend Nicht-Sozialisten, um die bürgerliche Mitte einzubinden. Der Kompromiß ist das Glaubensbekenntnis Rocards, und dies nicht allein, weil er in der Nationalversammlung keine Mehrheit besaß. Seine berühmte „Methode“ bestand darin, über ein Dossier solange mit allen betroffenen Korporationen zu beraten, bis ein Konsens gefunden wurde. Wenn Rocard auf willige Dialogpartner stieß, war dies auch möglich, so 1988 bei der Ausarbeitung eines neuen Status der Überseeprovinz Neukaledonien oder der Einführung eines sozialen Mindesteinkommens.

Das präventive Palaver führte jedoch ins Leere, sobald die Gegenseite an einem Konsens der Vernünftigen kein Gefallen finden mochte. Bevor sich die Opposition nach der Friedhofsschändung von Carpentras im Mai 1990 an Rocards Rundem Tisch zum Thema Ausländer-Integration setzte, mußte der Premier erst einmal versprechen, den Neu- Franzosen aus dem Maghreb kein Wahlrecht einzuräumen. Was schließlich das einzige Ergebnis des Tisches bleiben sollte.

Die einzige Unbekannte im Kalkül des libertären Technokraten Rocards war die Gesellschaft. Zwar begann der Tag des Regierungschefs regelmäßig mit der Lektüre der neuesten Meinungsumfragen, aber dennoch regten sich die Citoyens immer im ungünstigsten Augenblick. Da streikten die Finanz- und Gefängnisbeamten, wo doch die Verwaltungsreform schon in der Vorbereitung war; da gingen die Schüler 1990 auf die Straße, obwohl kein Budgetposten so sehr ausgeweitet worden war wie der Bildungshaushalt... Rätselhafte Zivilgesellschaft.

Rocard verlegte sich dann gewöhnlich aufs Aussitzen, setzte auf die konsensbildenden Tugenden der Zeit oder fand, wenn gar nichts mehr half, stets einige Milliarden, um den Bewegungen ihren Schwung zu nehmen.

Visionen sind nicht mehr gefragt — ein „Entfwurf“ fehlt dennoch

Es ist nicht verwunderlich, daß so einem nüchternen Kärrner wie Rocard der Mangel an „Visionen“, an „gesellschaftlichen Projekten“ vorgeworfen wird (erstaunlicher ist eher, daß derart muntere Empfehlungen aus dem Präsidentenpalast kommen, wo Visionen nur mehr im trauten Kamingeplauder gepflegt werden). Obwohl in Frankreich längst das „Ende der Ideologien“ proklamiert wurde, wird regelmäßig ein neuer „Entwurf“ gefordert — vor allem dann, wenn durch einen Vorfall das Licht auf eine gesellschaftliche „Malaise“ geworfen wird. So im Fall Carpentras, so angesichts der Aufstände in der Banlieue oder der Affäre um die Kleiderordnung islamischer Schülerinnen — den drei großen Debatten in der Amtszeit Rocards. Eine neue, wie auch immer beschaffene republikanische „Identität“ konnte dabei jedoch nicht hervorgezaubert werden.

Nun also greift der welke Präsident zum industriellen Nationalismus einer Edith Cresson, um seinem Frankreich einen „neuen Elan“ zu geben.