Fertiggemacht wurden nur „die Neger“

In Wittenberge hatte sich der Frust jugendlicher Cliquen schon lange angestaut/ Randale lag in der Luft/ Opfer wurden junge Namibier/ Die Bevölkerung hat eigene Sorgen und schaut weg  ■ Von Irina Grabowski

Wittenberge (taz) — Das friedliche Leben in der buckligen, kleinen Stadt trügt. Launig schlenkern Menschen ihre Einkaufsbeutel durch die Bahnstraße — die Super-Preis-Meile von Wittenberge. Worüber spricht man in diesen Tagen? Natürlich über das kalte Wetter, weiß ein pompös aufgemachtes Anzeigenblättchen. Im „Klubhaus der Eisenbahner“ — dem „KdE“ — gähnt die Bedienung hinter vorgehaltener Speisekarte, für die sich kaum einer der wenigen Gäste interessiert. Hinten befindet sich der Tanzsaal. Kleine deutsche Mädchen und Jungen hopsen im Polkaschritt über den abgeschabten Fußboden.

Jeden Donnerstag brennt hier die Luft. „Eine Scheißdisko“, David Eelu verzieht das Gesicht. Schmuddliger Raum und schlechte Musik. Nur zweimal war der junge Namibier hier — in der geschlossenen Ausländergruppe mit Betreuer. Doch was solls — die Langeweile drückt. Tagsüber sind die Namibier im Reichsbahnausbesserungswerk beschäftigt. Dort werden sie nach einer Vereinbarung, die zu DDR-Zeiten getroffen wurde, zu Betriebsschlossern ausgebildet. Die restliche Zeit schlagen sie mit Schlafen, Fernsehen und Spazierengehen tot.

Am Donnerstag vor zwei Wochen waren David und zwei seiner Freunde ahnungslos in der Diskothek aufgetaucht. Zwei deutsche Männer, erinnert er sich, hatten die tanzenden afrikanischen Jungen angerempelt : „Seid ihr Freunde oder was?“ Plötzlich wurden sie von einer ganzen Gruppe umringt und aus dem Saal gezerrt. Die Deutschen schlugen sie ins Gesicht, traten zu. In panischer Angst stach David mit einem Taschenmesser um sich. Als „Messer-Mann“ ging der schmale, schlacksige Junge in die Schlagzeilen der Boulevardblätter ein. Drei deutsche Jugendliche wurden am Hals, an der Wirbelsäule und am Arm verletzt. Einer von ihnen präsentiert in der Lokalpresse die „Richtigstellung“: Es hätte schon Unstimmigkeiten mit den Afrikanern an der Theke gegeben, aber man habe darüber vor der Tür „ganz sachlich“ gesprochen.

Daß es „Ärger gibt den Abend“, hat sich Maik Hempel schon denken können, als „die Neger“ hereinkamen. Der Azubi kennt die Afrikaner nur flüchtig aus dem Betrieb. „Kein Bedarf! Ick hab meine Kumpel“, wehrt der 17jährige ab. Bei den deutschen Lehrlingen ist das „KdE“ als „heißes Pflaster“ verschrien — ein Tummelplatz für Wittenberger Cliquen, die aus Frust Randale anzetteln. Maik ist „aus Prinzip“ gegen Gewalt. Angst habe er nicht gehabt, als die Messerstecherei begann. Denn er stand im Hintergrund und sah, „daß nur die Neger fertiggemacht wurden“. Die Namibier zu warnen, wäre viel zu riskant gewesen. „Die Wittenberger hätten gedacht, daß wir mit denen unter einer Decke stecken.“

Noch in der Nacht zogen 20 bis 30 Deutsche zum Haus in der Allendestraße 27, das von Namibiern und deutschen Familien gemeinsam bewohnt wird. Sie wollten Rache nehmen. Mit Gaspistolen, Eisenstangen und Messern bewaffnet drangen sie in die Wohnungen der Afrikaner ein, zerschlitzten die Betten, ließen Geld und Sachen mitgehen. Dann stürmten sie in das Zimmer im 4. Stock, wo David und vier seiner Freunde zusammensaßen. Drei von ihnen konnten mit Hilfe einer Wäscheleine auf einen tiefergelegenen Balkon flüchten. Jona Ipinge und Lucas Nghidinwa stürzten, von den Deutschen bedrängt, in die Tiefe. Jona liegt noch immer mit mehrfach gebrochenen Beinen im Krankenhaus in Wittenberge. Lucas, der unglücklich auf ein Treppengeländer aufgekommen war, ist aus dem Koma erwacht. Sein Gesicht ist zerstört.

David und seine Freunde können nicht fassen, warum sie Opfer blindwütiger Gewalt wurden. Seit einem Jahr leben die 14 Namibier in Wittenberge. Nie hätten sie sich als Schwarze in dieser weißen Arbeiterstadt bedroht gefühlt. Der Ausbildungsleiter kann im Betrieb keine Feindseligkeit gegen die „afrikanischen Freunde“ ausmachen. Wie gut geölte Rädchen erledigten sie ihre Produktionsaufgaben. „Die Neger“ würden doch immer irgendwo angepöbelt und liefen deshalb mit dem Messer in der Tasche rum, weiß eine junge Frau von ihren Hausnachbarn zu berichten.

Für Karl-Heinz Glücker, der als Betreuer im Wohnheim immer mal nach dem rechten sieht, war ein Gewaltverbrechen fällig und der Vorfall in der Disko nur der letzte Anstoß. Schon seit Wochen würden Randalierer-Cliquen Wittenberge terrorisieren. Die Gewalt, nicht nur gegen Ausländer, sei kaum zu stoppen. Drei Streifenpolizisten wachen über Ruhe und Ordnung in der Stadt mit ihren 30.000 Einwohnern.

Die Stimmung sei schlecht. Den Traum, „bedeutender Industriestandort“ im nördlichsten Zipfel von Brandenburg zu sein, hat Wittenberge ausgeträumt. Zellwolle und Nähmaschinen sind die Ladenhüter auf dem deutschen Markt. Tausende Beschäftigte wurden entlassen oder auf Kurzarbeit Null gesetzt. Nur ein Viertel der Schulabgänger hat einen Ausbildungsplatz gefunden. Sorgen haben die Deutschen genug. Da bleibt kein Funken Interesse für die Schwarzen übrig. Man lobt ihren Fleiß und daß „trotz“ der Ausländer Ruhe herrscht im Haus. Mit „deren Anziehart“, gesteht eine ältere Frau, komme sie nicht zurecht, diesen bunten Mützen und dem schlapprig-legeren Jeanslook. Unauffälliger, sagt die Frau und beugt sich zur Zwergengestalt, viel unauffälliger seien die Vietnamesen gewesen. Aber die seien im vorigen Jahr nach Hause geschickt worden.

Die Isolation ist perfekt. Karl- Heinz Glücker wünscht sich beinahe die organisierten FDJ- Freundschaftstreffen der Vergangenheit zurück. Ob nun zwanghaft oder nicht, aber heute kümmere sich niemand mehr um seine Schützlinge. Almuth Berger, Brandenburgs Ausländerbeauftragte, will zwei Streatworker aus Bochum anheuern, die sich langfristig den frustierten deutschen Jugendlichen und den ausgegrenzten Namibiern widmen wollen. Im Juli 1992 werden die Namibier ihre Lehre beenden und das fremde Land verlassen. Bis dahin bleibt die Angst, zwischen Gleichgültigkeit und offenem Ausländerhaß kaputtzugehen.