: Die heilige Schrift
■ Wolfgang Schmidt, typografischer Pionier, ist seit vier Jahren verschollen: Anke Jaaks hat ein schönes Doppel-Buch über ihn gemacht
Teil eines visuellen Leitsystems für den Verkehr zwischen Menschen: „Lebenszeichen“ von Wolfgang Schmidt.
“Er wird eines Tages mit der Frankfurter Untergrundbahn auf und davon fahren“, schrieb 1964 ein Freund. 1987 hat sich der Typograf Wolfgang Schmidt in einen Zug gesetzt und ist seither
hierhin bitte die
drei Reihen
seltsamer Zeichen
(bitte mit Rahmen
drumrum)
nicht wieder aufgetaucht. Vier Jahre später beschließt, nach Überwindung erheblicher Skrupel, Anke Jaaks, ein Buch über Schmidt zu machen. Das Buch ist jetzt fertig, Auflage vorerst: ein
Stück. Sein Material: Plakate, Grafiken, Bücher von Schmidt, und Kommentare, Erinnerungen von Freunden und Nachbarn; und was sonst noch von ihm übrig ist.
Anke Jaaks studiert Grafik- Design an der Bremer Kunsthochschule. Das Buch ist ihre Abschlußarbeit. Ein handsames Buch, und ganz unglaublich bescheiden. Es ist von vorneherein jedem Bedürfnis schon angepaßt, sozusagen vorauseilend variabel. Vor lauterem Streben, für alle denkbaren Zwecke praktisch zu sein, hat es sich sogar auf der Gürtellinie entzweigeschnitten. So hat man im Grund zwei Bücher übereinander vor sich liegen, in denen man je unabhängig blättern kann. Deren hintere Deckel sind, wo sie aneinanderstoßen, mittels eines siamesischen Stoff-Scharniers miteinander verwachsen. Dort kann man das Doppel-Buch einklappen aufs halbe Format und in den Schuber stecken.
1. Das siamesische Buch
Die obere Hälfte zeigt, in chronologischer Reihe, 172 Arbeiten von Schmidt: Plakate (z.B. für Filme des Atlas-Verleihs), eine komplette Serie von Geschäftsdrucksachen für den Buchhändler Wendelin Niedlich (einschließlich Visitenkarten, Lesezeichen und Einwickelpapier), Kataloge
hierhin bitte
das Foto von der
jungen blonden
Frau
Anke Jaaks, bremische Gestalterin, beispielsweise von beispielhaften BüchernFoto: Falk Heller
für die Möbelfirma Vitsoe und andererseits Bühnenbilder. Oder auch Agit-Plakate für eine Bürgerinitiative des Ortes Dreieichenhain bei Frankfurt, wo er seit 1960 gelebt hat.
2. Das schwere Werk des Weglassens
Allerweltlichere Gestalter glänzen gern mit Schnickschnack und fescher Inszenierung. Schmidt hat immer nur das schwere Werk des Weglassens betrieben. Sein Endprodukt ist das reine optische Zeichen, das die Lektüre der Welt erleichtert. Seine Lieblingsschrift: die klare Futura, in der der geometrische Gedanke von keiner Beimengung mehr getrübt ist. Wenn man so sagen darf: eine heitere Schrift. Schmidt nannte sie spaßeshalber seine „heilige Schrift“ (die Überschrift dieses Textes ist übrigens in der Futura gesetzt). In einer freien Arbeit hat Schmidt sogar die Atome der Futura (Kreis und Gerade) noch gespalten in Striche und Kreissegmente, um, in zahllosen Permutationen und Überlagerungen, zu erproben, wie sich selbst aus einfachsten Elementen formaler Reichtum erwirtschaften läßt. Mit dem Ergebnis geht er um wie ein Gärtner: Seine Blätter sind Textparks, gepflegt und überaus gründlich gejätet; man findet sich sofort zurecht.
3. Für Spazierleser
Auch im Buch über ihn. Anke Jaaks hat sicherheitshalber, für Spazierleser, sogar das Schema des Seitenbauplans vorangeheftet: unter einer Kopfleiste die Abbildungen, links unten eine vertikale Zeitleiste mit chronologischen Angaben; rechts unten, etwas breiter, knappe Legenden zum optischen Material. Eine äußerst sparsame, eine übersichtliche Gliederung.
4. Der Schriftgelehrte
Sie hätte dem Schmidt auch gefallen, dem Zeichen-Asketen, dem Aufklärer im verlotterten Reich der visuellen Kommunikation. Man muß sich vorstellen, wie er in seinem Zimmer in Dreieichenhain sitzt und, wie immer, eine graue Hose und einen schwarzen Pulli trägt und überhaupt, wie alles Überflüssige, auch die Farben nicht leiden kann und aus Schwarz und Weiß und Futura Plakate macht — vor einem fast blinden Fenster. „Ihn interessiert das Licht, nicht die Aussicht“, sagt einer seiner Freunde im Buch. Manchmal macht er sich einen Spaß und schlägt sich seitwärts in die Büsche der Konkreten Bilderpoesie: Ein Buch heißt „Oh ihr verdammten Arschlöcher“ und zeigt serienweise quadratische Nahfotos von Autoauspüffen. Auch sonst denkt Schmidt, der Schriftgelehrte, in Programmen, Serien und Strukturen. Der Chaotisierung der globalen Kommunikation hat er sein radikal einfaches Gesamtwerk entgegengesetzt: sozusagen ein visuelles Verkehrsleitsystem. Alles unverzüglich aufzufassen, die Zeichen in mühevoller, zäher, langer Arbeit von jeder Störung und allem
Unwesentlichem befreit. Am Ende ist der Reduktionist Schmidt, wie aus Versehen, selber verschwunden.
Der untere Halbteil von Anke Jaaks' Buch hat, wie man sagt, Pfiff: Er funktioniert als fakultative Ergänzung zum oberen. Man kann unten mitblättern; dabei laufen von links nach rechts, jeweils entlang der Mittelschnittlinie, auf beiden Hälften Paginierungsmarken mit, so daß der erste Blick schon verrät, ob die aufgeschlagenen Doppelseiten zusammengehören. Im unteren Teil finden sich zusätzliche Kommentare, Interviews und Bilder. Die (linke) Zeitleiste der oberen Teils wird, je nach Bedarf, fortgesetzt, die Legendenspalte rechts ebenfalls. Eine einfache und umso schönere Idee: Daß man zusätzliche Informationen sofort zur Hand hat, aber, so man sie nicht will, nicht einmal sehen muß.
5. Das Alphabet des Schilderns
Wolfgang Schmidt, 1929 geboren in Fulda, hat in Kassel beim großen Hans Leistikow studiert. Seit 1960 hauste er in Dreieichenhain. Er lebte von Gastprofessuren und Gebrauchsgrafik. Nebenher metzte und tüftelte er an hieroglyphischen Symbolen. Dies ist sein Lebenswerk: seltsam klare Rätselzeichen, konstruiert bloß mit Zirkel und Lineal. „Lebenszeichen“ nennt Schmidt dieses Surium; auf 893 Zeichen ist die Sammlung geplant. Es ist eine Art visuelles Alphabet für Konkrete Poesie. Seine Elemente greifen Konventionen des Sehens und Schilderns auf und verwandeln sie in Darstellungen komplexerer Sachverhalte. Schmidt hat jedes Zeichen sorgfältig destilliert. Zu einer breiteren praktischen Erprobung ist es nicht mehr gekommen, obwohl Schmidt sich sogar um die Übersetzbarkeit seiner „Lebenszeichen“ ins Akustische noch gekümmert hat. Noch fünf Jahre vor der großen Lebenszeichen-Ausstellung 1981 in Darmstadt sendete der Hessische Rundfunk 1976 eine Lautfassung des sonderbar schönen Vokabulars.
6. Gegen Null
1987 ist Wolfgang Schmidt verschwunden. Eine Suchaktion von Studenten beantwortete er schriftlich aus Husum: man möge ihn bitte in Ruhe lassen. Seither fehlt von ihm jede Spur. Manfred Dworschak
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