: Wiederentdeckung der Langsamkeit
■ ZDF zeigt Erich von Stroheims Stummfilmklassiker „Gier“, Pfingstmontag 9.05 Uhr
„Ich denke, ich habe in meinem Leben nur einen wirklichen Film gemacht, und den hat keiner gesehen“, sagte der 1885 in Östereich geborene Sohn jüdischer Eltern Erich von Stroheim. Gemeint ist Gier (Greed), den von Stroheim, neben Griffith und Chaplin einer der Großen des frühen amerikanischen Kinos, 1923 für MGM realisierte. Gesehen hat diesen Film bis heute kaum jemand, da „Gier“ zu den geschundenen Werken der Filmgeschichte gehört. Neun Stunden Laufzeit hatte das Epos ursprünglich. Doch erst die bis auf runde zwei Stunden verstümmelte Ruine entsprach den Vorstellungen des Produzenten und Widersachers Irving G. Thalberg.
Das restliche Material landete 1962 während der Lagerräumung bei MGM auf dem Müll. Für das ZDF war die Restaurations-Choriphäe Jürgen Labenski wieder einmal fündig. Mit vergleichsweise geringem Erfolg. Zum traditionellen Stummfilmtermin am Pfingstmontag wird die um einige Szenen auf 144 Minuten ergänzte Fassung erstmals ausgestrahlt. Erfolgreicher war die Suche nach der Premierenmusik. Für die Zweikanalausstrahlung konnte das Original-Greed-Notenmaterial des Komponisten Leo A. Kempinski verwandt werden.
Trotz seiner Verstümmelung zählt Gier für nicht wenige Filmliebhaber zu den zehn besten Filmen, die je gedreht wurden. Von seiner ganzen Machart her ist er durchwirkt von jenem filmästhetischen Pioniergeist aus den Anfängen der Filmgeschichte. Nachdem der Bergarbeiter McTeague (Gibson Gowland) von einem Scharlatan die Zahnheilkunde erlernt hat, heiratet er Trina Sieppe (ZaSu Pitts), auf die sein Freund Marcus Schoulder (Jean Hersholt) zunächst freizügig verzichtet. Als Trina durch einen Lotteriegewinn reich wird, kommt es zum Bruch zwischen den Freunden. Von Gier zerfressen verschwindet Marcus, um McTeague aufgrund seiner fehlenden Approbation zu ruinieren.
Auch McTeagues Ehe scheitert. Trina entpuppt sich als weibliches Gegenstück zum gierigen Marcus. Um ihre Frigidität zu kompensieren, steigert sie sich in wahnhaften Geldgeiz, der sogar den gutmütigen „short thinker“ McTeague bis zum Mord an Trina treibt. Halb verdurstet stehen sich die alten Kontrahenten am Ende in der Wüste wieder gegenüber. Im Streit um Trinas Geld kann McTeague Marcus zwar töten. Per Handschellen bleibt er jedoch an ihn gefesselt.
Obgleich die 144-Minuten-Fassung immer noch eine Video-Clip- Version des Originals darstellt, besitzt auch dieses Fragment gegenüber heutigen filmischen Sehgewohnheiten noch einen gänzlich anderen Erzählrhythmus. Gier schaut man sich nicht an wie einen üblichen Spielfilm, bei dem man auf die Story wartet. Mit langem Atem und viel Geduld wird jede Szene, jede Episode ausführlich vorbereitet. Durch Aneinanderfügung einer nie gekannten Fülle für sich genommen gar nicht realistischer visueller Details erzielt von Stroheim einen Hyper- Naturalsimus. Einmal angelaufen, rammt einen der Film wie ein Güterzug im Schrittempo. Welch epische Breite die ursprüngliche Fassung hatte, läßt sich nur erahnen, wenn man hört, daß allein aus den weggeschnittenen Szenen der Nebenfiguren Fanny Hayes und Midgeley ein eigenständiger Kurzfilm: „The sweetest Story in the World“ montiert wurde. Manfred Riepe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen