FEURIGER ELIAS

■ Im deutsch-belgischen Grenzgebiet erlebt eine 105 Jahre alte Eisenbahnstrecke ihre Renaissance: Die Vennbahn

Im deutsch-belgischen Grenzgebiet erlebt eine 105 Jahre alte Eisenbahnstrecke ihre Renaissance: Die Vennbahn

VonPatrickZiob

Sonntags ist im Bahnhof von Raeren die Hölle los. Etwa einhundert leichte Wanderrucksäcke, Knickerbocker und regenfeste Anoraks samt Frauchen und Herrchen drängeln auf den kleinen Bahnsteig. Auch eine Gruppe Biker, die für einen Tag auf die Gemütlichkeit ihrer Sitzbänke verzichten, schleppen unzählige Kinder und Bierkästen durch die Wartehalle des Gebäudes. Sie alle warten auf die zur Zeit populärste Touristenattraktion Ostbelgiens: die Vennbahn.

Den Namen gab die Streckenführung. Gezogen von einer 1.750 PS starken Diesellok durchquert der Zug große Teile des Hohen Venn. Die Hochmoorlandschaft in der deutsch-belgischen Grenzregion zwischen Aachen, Eupen und Malmedy ist wahrscheinlich das Schönste, was Eifel und Ardennen zu bieten haben. Hier läßt sich unberührte Natur hautnah erleben. Ein abgegriffener Satz, aber zutreffend. Und genau das ist es, was die rund 13.000 Fahrgäste im vergangenen Jahr mit der Vennbahn fahren ließ. Eine gemütliche Fahrt — für die 64 Kilometer ist man fast drei Stunden unterwegs — mit einem Exklusivblick auf die Grasbüschellandschaft des Venn.

Jeden Sonntag um zehn Uhr geht es in Eupen los. Hier sitzt auch der bekannteste Förderer des Bahnprojektes: Joseph Maraite, seines Zeichens Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Er nutzte das im vergangenen Jahr von der EG ausgerufene „Europäische Jahr des Tourismus“ und rang in Brüssel das Versprechen ab, für fünfzig Prozent der Kosten aufzukommen. Denn als die Fremdenverkehrsämter und Kommunen beiderseits der Grenze beschlossen, die 105 Jahre alte Eisenbahn wieder fahren zu lassen, wußte keiner, wie die dafür benötigten 127 Millionen belgische Franken aufzubringen sind.

Bereits im ersten Jahr aus den roten Zahlen

Da kam der Brüsseler Geldsegen gerade recht. Allein achtzig Millionen Franken — das sind etwa vier Millionen Mark — kostete die Instandsetzung der Gleisanlagen. Die Betreiber der Bahn, der Vennbahnverein V.o.E., errechneten einen Schnitt von 300 Fahrgästen pro Reisetag, um keine roten Zahlen einzufahren. Es kamen 440. Für einen „Verein ohne Erwerbszweck“, so die Bedeutung des Kürzels V.o.E., ein beträchtlicher Gewinn: rund 100.000 Mark im ersten Jahr. Aber, so der Vereinspräsident Wolfgang Ohn, „mit der Vennbahn verdient niemand Geld“. So investiert man weiter. Noch zwei Triebwagen, zwei Reisezugwagen und eine Halle, um das Zugmaterial unterstellen zu können. Auch der bei den Fahrgästen so beliebte Büffetwagen wurde ausgebaut.

Kurz vor halb elf rollt der Zug in den kleinen Bahnhof von Raeren ein. Es kommt Bewegung in die Menge. Vater ruft nach „Mutti“, und der Biker trachtet danach, Kinder und Bier zusammenzuhalten. Man nimmt Platz in den fein eingerichteten Wagen aus den dreißiger Jahren. Diesen Luxus können nur diejenigen genießen, die vorher einen Platz reserviert haben. Die Unentschlossenen müssen die Fahrt auf harten Holzbänken im letzten Teil des Zuges ausharren.

Ein kurzer Pfiff, und die Bahn setzt sich in Bewegung. Mit etwas Mühe quält sich der Zug in Serpentinen die Hügel von Raeren hinauf. Hier wechselt die Vennbahn von Belgien nach Deutschland und nimmt über die Dörfer Roetgen, Lammersdorf, Konzen und Monschau Kurs auf das eigentliche Kerngebiet des Hohen Venn.

In Roetgen, das etwa zwanzig Kilometer südlich der ehemaligen Kaiserstadt Aachen liegt, hat sich der kaiserstädtische Mittelstand mit seinen Einfamilienhäusern niedergelassen. Einfamilienhäuser, deren Wohnfläche zum Teil größer ist als die eines Mietshauses in irgendeiner Großstadt. In Roetgen trifft der Reisende auch auf eine besondere Art des Einzelhandels: den Grenzmarkt. Schon auf belgischem Territorium gelegen, aber noch vor der Zollstation, lassen sich hier Zigaretten, Tabak und Kaffee preiswerter erwerben. Die Differenz zu den in Deutschland angebotenen Waren beträgt oft nur ein paar Pfenninge; doch die reichen aus, daß an Wochenenden ganze Heerscharen über die auch an Sonntagen geöffneten Läden herfallen.

Aufschwung durch die Bahn

Das war vor 106 Jahren, als die Vennbahn ihren Betrieb aufnahm, ganz anders. Damals stand das Eupener Land noch unter preußischer Verwaltung. Die Regierung in Berlin wollte die Kohlereviere des Aachener Raumes mit dem luxemburgisch-lothringischen Erzbecken verbinden. Von der Eifeler Bevölkerung wurde der „feurige Elias“, wie sie die Lokomotive nannten, freudig begrüßt. Denn damit fand die wirtschaftlich eher arme Region Anschluß an die großen Fernverkehrsstrecken im Norden. Der Aufschwung ließ nicht lange auf sich warten. Fabriken entlang der Strecke entstanden, und auch der Holzhandel blühte wieder auf.

Mußte man vorher das Holz mit langsamen Pferdefuhrwerken befördern, so übernahm das jetzt die Vennbahn. Schon damals steigerte die Inbetriebnahme den Tourismus. „Aus grauer Städte Mauern hinaus in Wald und Feld“, war das Schlagwort der neuen Romantik zur Zeit der Jahrhundertwende. In den meisten Städten und Dörfern entlang der Bahnlinie entstand eine neue Tourismuskultur. In Monschau, das der Zug nach knapp eineinhalb Stunden Fahrt erreicht, setzten die Einheimischen weniger auf die Bahn als Helfer der brachliegenden Industrie denn als „Gästebringer“ für die Eifelregion. Der 1885 gegründete „Verschönerungsverein“ tat, wie sein Name ihm geheißen, und verschönerte Montjoie, wie Monschau bis 1918 hieß.

Hier verlassen die ersten Fahrgäste den Zug. Mit Recht, denn Monschaus spätmittelalterliches Ambiente wird gehegt und gepflegt. In einem engen Tal gelegen und nicht allzu groß, scheint hier die Zeit stehengeblieben zu sein. Erfreulich an der Stadt ist, daß man auf die üblichen Touristen-Neppläden verzichtet und auf gutbürgerliche Gastlichkeit setzt. Das mag aber auch an der Mentalität der Eifeler liegen. Eine aus dem Rheinland Zugezogene beschrieb die Menschen des Hohen Venn einmal so: „Man wirbt um Touristen und hofft, daß nicht zu viele Fremde kommen.“ Genau deshalb ist diese bürgerliche Gastlichkeit so wohltuend. Sie ist so, wie die Menschen sind: der Besucher muß sich an Monschau anpassen, und nicht umgekehrt.

Eisenbahnfreaks ohne Lohn

Nun quält sich der Zug wirklich. Die Steigung hinauf zum deutsch-belgischen Grenzdorf Kalterherberg ist beträchtlich. Kinder wie Erwachsene rätseln, ob und wie die Bahn den Berg bezwingt. Der Schaffner beruhigt die Fahrgäste: „Mer schaffen dat schonn.“ Er wie auch der Lokführer und sämtliches Bahnhofspersonal sind echte Eisenbahnfreaks. Mit keinem Pfennig wird die Arbeit an den Wochenenden entlohnt. Samstags machen sie die Bahn fahrbereit für den Sonntag, montags geht's dann wieder ins Büro.

In Kalterherberg verlassen die leichten Wanderrucksäcke, Knickerbocker und Anoraks, natürlich mit Herrchen und Frauchen, die Bahn. Von hier aus wird „gevennwandert“. Mit dem Slogan „Vennwanderung mit Vennbahn-Anreise“ werben die örtlichen Touristenvereine für sich und ihr Bahnprojekt. Alles, was irgendwie Touristen anziehen könnte, wird mobilisiert. Die sogenannten „Anschlußprogramme“ bieten neben Wander- und Radwandertouren Besichtigungen von Museen und Burgen sowie „gastronomische Wochenendaufenthalte“.

Für den Chefredakteur des neben dem belgischen Rundfunk wohl bekanntesten Radiosenders „Radio Fantasy Raeren“, Wolfgang Deutz, hat die Vennbahn neben der touristischen auch eine politische Bedeutung: „Die Menschen hier sind selbstbewußter geworden. Im Hinblick auf ,Europa 1993‘ ein sehr wichtiger Aspekt für das Grenzland.“

Im Bahnhof von Raeren ist wieder Ruhe eingekehrt. Es ist gegen ein Uhr, und man weiß, daß der Zug nun sein Ziel, das belgische Büllingen, erreicht hat. Erst am frühen Abend wird die Vennbahn wieder langsam in den Bahnhof einrollen. Die Biker werden samt ihren Kindern, aber ohne Bierkästen, die schweren Maschinen besteigen.