Erneut Bedenkliches

■ Der automobile Weltgeist & die Bewegung nach oben

Wer nicht weiter weiß, bewegt sich gern. Werden die Lüfte und das Sitzfleisch weicher, tritt das Feuilleton die Reise an: der eine fährt im Trabi durch Kambodscha, der andre auf dem Dampfer von Hamburg nach Dresden, und unsereiner würde auch gern fort, harrt aber aus, ans Gürteltier der Pflicht geschnallt, und läßt vom Schreibtisch aus allein die Wünsche schweifen... Gegenüber versperrt das Springer-Hochhaus den Blick ins Weite und lockt mit goldemem Mammon, schimmert verheißungsvoll ins Abendrot, und man möchte sich einmal mehr verbluten. Der Trost der Daheimgebliebenen wird dort produziert, in schönen fetten Schlagzeilen, die rufen, daß die Welt so bunt und in Bewegung, daß allerorten allerhand passiert... ein schwacher Trost, aber ein täglicher. Seltener hingegen ist uns das Glück beschieden, in der Tiefdruckbeilage einer großen Frankfurter Tageszeitung auf den Namen jenes Schreibers zu stoßen, der ebenfalls immer frohlocken macht: über das Dasein als solches, und über das im Wort. Mathias Schreiber, dem offenbar ebenfalls das Glück der Reise in diesem Wonnemonat verwehrt geblieben ist, hält sich am Gedanken schadlos und sinniert über Bewegung: „Abschied vom Auto?“ heißt die Frage, die er verdienstvollerweise stellt, und schon mit dem Untertitel ahnen wir, was uns erwartet: „Die schnelle Stadt, der Stau und die Kulturkritik“.

Nun ist über das Auto an und für sich ja schon des öfteren geschrieben worden, und wir erinnern uns, daß verkehrskritische Erwägungen im Einzugsbereich sogar des mäßigen Denkens liegen, seit, sagen wir, zum dritten Mal der kluge Kopf hinter dem Steuer auf dem Weg zur Arbeit oder zurück vom Stauschlaf sanft umarmt wurde, also seit einigen fünfzehn Jahren... andererseits hat es noch keiner Wahrheit geschadet, beizeiten wiederholt zu werden, und speziell dem Tiefdruck, dieser Konservenform des Formulierten, zu der uns, wir gestehen es neidvoll, in dieser Zeitung nur das Geld fehlt, eignet die Weihe des zeitlos Wahren, ewig Schönen, gut Gemeinten. Wenn in der Tiefdruckbeilage der ‘FAZ' gegen das Auto für alle gedacht wird, dann will das schon etwas bedeuten, ist das Revolte an sich, kommt das einer Selbstkritik des Deutschen Automobilclubs, des allergemeinsten aller hiesigen Vereine gleich. Und damit würden wir, die seit Jahren ihr Leben in den Pedalen riskieren oder gar unter der wachsenden Abhängigkeit der mobilen Stadt-Gesellschaft von der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) zu leiden haben, uns schon zufriedengeben.

Doch mehr als das. Mathias Schreiber gibt sich nicht mit dem zufrieden, was anerkannt und als verdienstvoll, aber folgenlos, zum Nachgedachten gehört: er fügt dem allseits Akzeptierten noch etwas Eigenes hinzu. Mittels der Analyse des Banalen gibt er uns Autolosen zu bedenken nicht nur, was uns erspart geblieben ist (Heute verharrt die exklusive Karosse im selben Stau, vor derselben Ampel wie Polo und Kadett), sondern auch, welch Unglück wir für das seine eingetauscht haben. Also eine zweifache Kollektivierung: Sammeltransport, zudem organisiert von einer monopolistischen Massenorganisation mit bestimmten Bequemlichkeitskriterien, Schmuddelneigungen und Lohnvorstellungen. Busfahrer: Die ‘FAZ' will Euch Eure verschmuddelten, dabei so bequemen Villen im Tessin wegnehmen! Insassen: Wehrt Euch gegen die Zwangskollektivierung via Fahrplan und Tarifabschluß, nun, wo der Sozialismus glücklich überwunden ist! Freier Markt dem Tüchtigen und Sauberkeit auf allen Wegen!

Die Konsequenz scheint klar, doch das einerseits und andrerseits gibt uns nicht frei. Ist doch das Auto nicht nur ein Selbstbeweger, sondern auch autoaggressiv: Das Automobil, dies schöne filmische Stadt-Requisit, frißt die Stadt — und damit sich selbst. Wohl bekomm's, möchte man wünschen, doch dann kommt es noch wohler: Fortan assoziieren wir die größtmögliche Masse von Autos spontan mit großflächigem, letzten Endes weltweitem Stillstand im Blechkleid.

Stillstand im Blechkleid, weltweit. Wir assoziieren unspontan: Der Weltgeist hat wieder mal Ausgang. Und bindet kühn seine Geschichte an die des Verbrennungsmotors voraus und zurück: Als Friedrich Nietzsche, in den Schriften „Die fröhliche Wissenschaft“ und „Also sprach Zarathustra“, immer radikaler über den Tod Gottes nachdachte, also in den Jahren zwischen 1882 und 1885, konstruierten Benz und Daimler ihre ersten Kraftwagen mit Verbrennungsmotoren. Nach einer alten philosophischen Lehre ist Gott ein „unbewegter Beweger“ des Alls. „Automobil“, ein griechisch-lateinisches Wortgemix, heißt soviel wie „Selbstbeweger“. Der unbewegte Beweger ist gestorben und wieder auferstanden: als mechanischer Selbstbeweger. Der „Kraftwagen“, der Stellvertreter des Übermenschen, verkörpert wie dieser, wenn auch in trivialer Form, die Energie des Willens, die sich selbst bewegt.

Nietzsche, Daimler, Gott und Auto, zu alledem der freie Wille in trivialer Form: wer da nicht klug wird, wird es nimmermehr. Wir, an den Schreibtisch und in den Stillsitz gefesselt, kommen atemlos zurück von dieser Reise durch die Weltgeschichte und begreifen: es kann das Blech nicht nur geredet, es kann sogar geschrieben werden. Das Auto, dieser praktische, flexible, zeitsparende Raumsouverän, verhilft, als geistiges Mobile, zu ganz unerhörten Bewegungen, hat man es erst mit dem feinen Parfüm Kulturkritik besprüht. Wir greifen verwirrt zum Busfahrplan, uns einmal mehr ins Kollektiv zu zwängen. Zu Hause wollen wir alles in Ruhe und Stillstand nachlesen, die Heilsgeschichte und ihre säkulare Wiedergängerei im Automobilen, das Blechkleid in der Geschichte der Mode, den Sammeltransport im Gewerkschaftswesen... da stürmt ein Kollege, nur auf seinen Füßen, ganz unterm Eindruck das Büro: eben jener Mathias Schreiber, so erfahren wir, der das Auto en masse mit Tiefdruck bedenkt, hat sich im Reisemonat Mai für seinen Stillstand auf der Straße offenbar durch Luftbewegung entschädigt, denn sein Geist ward in Hamburg gesehen. Dortselbst wird er zukünftig bei einem großen deutschen Nachrichtenmagazin, ganz und gar nicht zu verwechseln mit einer ebenfalls dort ansässigen Illustrierten, für die Kulturkritik verantwortungsvoll Sorge tragen: den Weltgeist zieht es ans Meer.

Wir legen den zerkauten Bleistift fort und treten betrübt den Heimweg an. Was wird uns die Zukunft bescheren? Wird der Schreiber der zitierten Zeilen denn auch dort, als Chef unter Chefs, die Freiheit des Gedankens haben dürfen und gar selbst ihren Ausdruck? Wird er, im Angesicht des Horizonts, auch nicht nachlassen in seiner analytischen Schärfe? Schon Thomas Mann, alias Thomas Buddenbrock, beklagte die einschläfernde, melancholisierende Wirkung des sanften Plätscherns, des immergleichen Wellengangs, der sinnlosen Bewegung, die da verwirrt und müde macht. Vielleicht gelingt es unsrem Freunde, zwischen der Nordsee und der Limousine etwas zu knüpfen, was ein Gedanke werden möchte. Wir halten ihm die Stange. es