INTERVIEW
: „Wir verweisen nicht auf die Selbstheilungskräfte“

■ Die Psychologin Michaela Schüürmann arbeitete mehrere Jahre im Vergewaltigungskrisenzentrum „women organized against rape“ in Philadelphia, eine der größten Einrichtungen dieser Art in den USA

taz: Sie haben zwei Jahre lang im Vergewaltigungskrisenzentrum in Philadelphia gearbeitet. Welchen Eindruck hatten Sie dort vom Ausmaß der sexuellen Gewalt?

Michaela Schüürmann: Ich mußte mich selbst erst daran gewöhnen, daß die Bedrohung in einer US-amerikanischen Großstadt wie Philadelphia allgegenwärtig ist. Ich habe zum Beispiel sehr oft von Bekannten gehört, daß sie überfallen worden sind. Meiner Einschätzung nach wird gerade bei Einbrüchen und Überfällen häufiger vergewaltigt als bei uns. Daß die sexuelle Gewalt in der Familie größere Ausmaße hat als hier, möchte ich nicht behaupten, aber die Überfall-Vergewaltigungen sind sicher zahlreicher.

Ich habe, ausgehend von den Mißbrauchs- und Vergewaltigungsfällen, die uns bekannt wurden, eine Überschlagsrechnung gemacht: Eine Frau in Philadelphia muß, wenn sie etwa 70 Jahre alt wird, damit rechnen, in ihrem Leben zweimal vergewaltigt zu werden. Ich habe dabei eine Dunkelziffer von 1:10 angesetzt, was noch sehr niedrig ist. Viele Vergewaltigungen — vor allem die ehelichen — werden damit noch gar nicht erfaßt.

Woher kommt diese Gewaltbereitschaft?

Ich meine, das liegt am sozialen Klima. Es herrscht eine unglaubliche Armut, soziale Ungerechtigkeit und ein Klima von Gewalt in jeder Hinsicht. Ich war geschockt, wie viele Leute obdachlos sind, wie viele Wohnungen Bruchbuden sind. Die Hälfte der Bevölkerung lebt am Rande des Existenzminimums. Viele der öffentlichen Schulen sehen aus wie Gefängnisse. Die Schüler werden dort morgens nach Waffen durchsucht, die Türen werden abgeschlossen, um die Drogenhändler draußen zu halten, und die Schüler lernen nichts. Das ist eine Atmosphäre, die Gewalt fördert — auch sexuelle Gewalt.

Was war Ihre Aufgabe im Krisenzentrum?

Es gab vier Programme: Den 24-Stunden-Notruf mit Krankenhausbegleitung, die Gerichtsbegleitung, das klinische Programm und die Öffentlichkeitsarbeit. Ich selbst habe mißbrauchte Kinder zu Prozessen begleitet, habe aber auch Einzel- und Gruppenberatungen mit vergewaltigten Frauen durchgeführt.

Wie haben die Betroffenen zu Ihnen gefunden?

Auf verschiedenen Wegen. Wir arbeiteten sehr eng mit der Polizei zusammen, mit Staatsanwaltschaft und Krankenhäusern. Sagen wir, eine Frau wurde auf der Straße überfallen, hat die Polizei angerufen und wird von einem Beamten ins Krankenhaus gebracht. Dann war von unserem Zentrum entweder schon eine Mitarbeiterin da oder kam dorthin, um mit der Betroffenen Kontakt aufzunehmen. Im Gericht war es ähnlich. Wir erfuhren von jedem Fall, der mit sexueller Gewalt zu tun hatte, und sind grundsätzlich immer hingegangen. Natürlich kamen auch Frauen von sich aus zu uns.

Wie wird das Zentrum von der Bevölkerung angenommen?

Ich denke, es ist sehr bekannt. Es ist mit 25 festangestellten Frauen und 100 bis 150 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen eines der größten, wenn nicht das größte derartige Zentrum in den USA, und es ist dementsprechend durch Anzeigen, durch die Medien — vor allem das Fernsehen — in der Öffentlichkeit präsent. Präsenter wohl als viele Frauenzentren hier. Wobei der große Unterschied zur Bundesrepublik darin besteht: Unser Prinzip war es, auf die Frauen zuzugehen und nicht zu warten, daß sie sich selber melden. Die meisten Frauen waren darüber auch sehr froh. Sie empfanden das nicht als aufdringlich.

Wie finanziert sich das Projekt?

Zu einem Drittel wird es vom Staat Pennsylvania getragen, zu einem Drittel von der Stadt und ein Drittel sind Spenden.

Im psychosozialen Bereich werden die USA ja oft als vorbildlich angesehen. Fanden Sie auch die Arbeit im Krisenzentrum bespielhaft?

Es war natürlich nicht alles optimal. Wir wurden zum Beispiel durch die enge Zusammenarbeit mit den Behörden auch an die Leine genommen. Man konnte nicht so auf den Putz hauen und Mißstände bei den Behörden ankreiden. Wir waren ja auf die Zusammenarbeit angewiesen und natürlich auch auf die staatlichen Gelder.

Es wird daneben häufig kritisiert, daß wir hauptsächlich so eine Art Feuerwehrfunktion hatten. Aber anders war es vielleicht kaum möglich: Ich kann nicht eine lange politische Diskussion anfangen, wenn neben mir jemand acht Stunden im Krankenhaus gesessen und noch nichts gegessen hat.

Ich fand den Grundgedanken sehr gut, daß wir den Frauen unter die Arme greifen und sie nicht — wie mir das hier tendenziell erscheint — auf ihre Selbstheilungskraft verweisen.

Das Gefühl, sich nach einem schlimmen Erlebnis auch mal fallen lassen zu können, ist für die Betroffenen sehr wichtig. Ich meine, bei uns wird in dieser Beziehung zu viel Wert auf Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Betroffenen gelegt. Und daß sie mit all ihren Problemen gut fertig werden. Interview: Kerstin Geisel