Nur ein bißchen „rumgeschubst“

Die Zahl der Vergewaltigungen in den USA ist während der letzten Jahre sprunghaft gestiegen/ Neue Offenheit und altes Rollenverhalten konkurrieren in einer Gesellschaft der Gewalt/ Doch die Frauen gehen jetzt schneller zur Polizei Für die Beratungszentren sind Vergewaltigungen „Haßverbrechen“, die Frauen einschüchtern sollen  ■ VON SILVIA SANIDES

Scarlett O'Hara wehrt sich heftig gegen Rhett Butlers Avancen. Sie trommelt mit den Fäusten auf seine Brust, schreit. Er aber trägt sie die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Szenenwechsel. Der nächste Morgen. Scarlett sitzt strahlend im Bett. Das Liebesglück ist wieder hergestellt.

Für Denise Snyder illustriert die Szene aus dem Klassiker Vom Winde verweht, wie eng in unseren Köpfen Sex und Gewalt miteinander verknüpft sind: „Aus Nein wird Ja. Ein Nein ist etwas, das überwunden, nicht respektiert werden muß.“ Mit Sex und Gewalt ist Snyder als Leiterin des „Rape Crisis Center“ (Beratungszentrum für vergewaltigte Frauen) in Washington täglich konfrontiert. Nach jüngsten Berichten hat die Zahl der Vergewaltigungen in den USA stark zugenommen und in der US-Hauptstadt, so Snyder, „haben wir die zweifelhafte Ehre, mal wieder an der Spitze zu liegen“. Um 63 Prozent ist die Vergewaltigungsrate in Washington im letzten Jahr laut Polizeireport gestiegen; das Rape Crisis Center registrierte sogar eine Zunahme um 77 Prozent. Andere Regionen der USA meldeten ähnlich erschreckende Zahlen.

Senator Joseph Biden, der die Untersuchung als Vorsitzender des „Kongreßkomitees für Juristische Fragen“ in Auftrag gegeben hatte, schloß: „Vergewaltigung hat epidemische Ausmaße in unserem Land erreicht“. Biden hatte sich erstmals die Mühe gemacht, nicht nur die Polizei, der schätzungsweise nur zehn Prozent aller Vergewaltigungen gemeldet werden, sondern auch die Rape Crisis Center zu konsultieren, wo die Opfer von Vergewaltigungen psychisch und medizinisch betreut werden. Besonders in konservativeren Gebieten ist der Unterschied in den Zahlen frappierend: Der Staat Louisiana meldete einen Anstieg der Vergewaltigungsrate von 0,3 Prozent, die Rape Crisis Center dagegen hatten 39 Prozent mehr Frauen als im Vorjahr beraten.

Die Polizei spekuliert, daß ein rascher Bevölkerungszuwachs in den städtischen Gebieten und die zunehmende Bereitschaft von Frauen, Vergewaltigungen zu melden, für die hohen Zahlen verantwortlich sind. Außerdem spiele das Drogenproblem eine Rolle, meint Wyndell Watkins, der die „Abteilung für Sexualdelikte“ bei der Polizei in Washington leitet: „Wenn man Teil dieser Szene wird, gelten die Spielregeln der Straße, und die sind hart“.

Diese Erklärungen findet Snyder jedoch unzureichend. Sie ist überzeugt: „Irgendwas senkt in unserer Gesellschaft die Barrieren, die uns zivilisiert miteinander umgehen lassen.“ Dafür sei zu einem gewissen Grad sicher die tägliche Verabreichung von Sex und Gewalt durch die Medien verantwortlich. Ihre Kollegin Lyn McCoy, die ein Rape Crisis Center außerhalb Washingtons leitet, fügt hinzu: „Unsere Gesellschaft ist gewalttätiger als die anderer industrialisierter Länder. Sehen Sie sich doch unsere Herkunft an, wie gewaltsam wir den Westen erobert haben.“

Aber warum ist die Vergewaltigungsrate in den letzten Jahren viermal schneller als die anderer Verbrechen gestiegen? Snyder und McCoy schließen aus ihren Erfahrungen, daß Frauen nicht wegen ihrer Sexualität, sondern aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit zu Opfern von Gewaltakten werden. Auch andere gesellschaftliche Gruppen — Juden, Schwarze, Asiaten — leiden seit einigen Jahren vermehrt unter „hate crime“ ( Haßverbrechen). „Haßverbrechen“, erklärt McCoy, sind gegen ethnische oder religiöse Minderheiten, oder eben auch Frauen, gerichtet, um sie in Schach zu halten: „Vergewaltigungen dienen Männern als Werkzeug, um Frauen zu kontrollieren.“

Die Mehrzahl der Frauen, zwischen 60 und 80 Prozent, werden nicht von Fremden in dunklen Gassen, sondern von ihnen bekannten Männern vergewaltigt. Darin liegt zumindest eine Teilerklärung für den rapiden Anstieg des Verbrechens. „Die Definition von Vergewaltigung hat sich gewandelt“, so McCoy. „Wer vor zehn Jahren nach ein paar gemeinsamen Bieren vom Begleiter im Auto vergewaltigt wurde, ist nicht zum Rape Crisis Center und schon gar nicht zur Polizei gegangen. Das galt nicht als Verbrechen.“ Heute sind sich Frauen bewußt, daß jeder Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen eine Vergewaltigung ist. In einer neuen Umfrage der Frauenzeitschrift 'MS‘ meldeten sich Frauen zu Wort, die vor 20 oder 30 Jahren von Bekannten, Freunden oder Ehemännern zum Beischlaf gezwungen worden waren, aber diese Erfahrung erst jetzt als Vergewaltigung erkennen.

„Es fällt besonders schwer, sich selbst und anderen gegenüber eine Vergewaltigung durch Bekannte einzugestehen“, weiß Bernice Sandler vom Frauenprojekt „Project on the Status and Education of Women“. Es sei ein Erfolg der Frauenbewegung, daß Vergewaltigungen durch Bekannte heute als Gewaltverbrechen empfunden werden, betont Sandler. Zuweilen wird die Frauenbewegung für die hohe Zuwachsrate sogar mitverantwortlich gemacht. Justizbeamte vermuten, daß Frauen heute mehr als früher gefährdet sind, weil sie berufstätig sind, alleine Sport treiben oder abends ausgehen. In Washington arbeiten zwei Drittel aller Frauen, mehr als in allen anderen amerikanischen Städten, außerhalb des Hauses. Snyder findet diese Erklärung jedoch zu einfach: „Sie wollen das Opfer für die Tat verantwortlich machen, Frauen zurück ins Haus scheuchen“.

Auf eine subtilere Art, darin sind sich Snyder und McCoy einig, tragen die Erfolge der Frauenbewegung vielleicht tatsächlich zur erhöhten Vergewaltigungsrate bei. Frauen sind weit mehr als früher zu einer Bedrohung für Männer geworden. Sie konkurrieren mit ihnen im Beruf, sind für ihre Freizeitgestaltung nicht auf sie angewiesen und fordern aufgrund ihrer verbesserten wirtschaftlichen Lage mehr Mitspracherecht in der Familie. Für Männer, die dazu erzogen worden sind zu dominieren, wahrlich ein Problem. Deshalb, meint McCoy, sind „Vergewaltigungen zumindest auch eine Reaktion auf unsere Befreiung, ein Versuch, uns in unsere alten Rollen zu verbannen“.

Diese alten Rollen sind durchaus nicht Vergangenheit. „Ob Zigaretten- oder Jeanswerbung, Rock-, Pop- oder Rapmusik“, beklagt Snyder, „noch immer werden Frauen als unterwürfig, abwartend und Männer als dominierend, handelnd porträtiert — in allen Lebenslagen, auch beim Sex. Und der Eindruck entsteht, daß sowohl Frauen wie Männer es so wollen, so glücklich sind.“ Nicht nur Scarlett O'Hara aus dem Amerika der Sklavenhalter des vorigen Jahrhunderts genießt es, im Sturm erobert zu werden. „Schauen Sie sich nur mal den Film Henry und June an“, schimpft Snyder, „in zwei Szenen wehrt sich June gegen Liebhaber bzw. Ehemann, gibt dann nach, und anschließend herrscht eitel Sonnenschein“.

Wie weit verbreitet die Meinung ist, Sex und Gewalt gehörten zusammen, zeigt die Umfrage eines Rape Crisis Center im Bundesstaat New Jersey unter Jugendlichen. 65 Prozent der Jungen und 57 Prozent der Mädchen fanden es in Ordnung, daß ein Freund die Freundin zum Geschlechtsverkehr zwingt, nachdem das Paar sechs Monate „zusammen“ war. Auch zwei Drittel der Universitätsstudenten geben zu, sie hätten schon einmal eine Frau „ein bißchen rumgeschubst“, um sie ins Bett zu bekommen. Wird die Frage jedoch anders gestellt — haben Sie schon einmal eine Frau vergewaltigt? — dann ist die Antwort fast immer negativ. Besonders innerhalb der Ehe sind Vergewaltigungen sanktioniert. 87 Prozent der 15jährigen Jungen und 79 Prozent der Mädchen finden Gewalt oder Gewaltandrohung akzeptabel, wenn das Paar verheiratet ist. Die Jugendlichen reflektieren nichts anderes als die Ansicht der Erwachsenen. Ein Politiker, der sich gegen das gesetzliche Verbot von Vergewaltigungen in der Ehe aussprach, wollte wissen: „Wenn man seine Frau nicht vergewaltigen darf, wen kann man denn dann vergewaltigen?“

Was tun? „Aufklärung und nochmal Aufklärung“, wünscht sich McCoy. „Aufklärung und harte Strafen für die Täter“, verlangt Snyder. Schließlich landen weniger als ein Prozent aller Vergewaltiger im Gefängnis. Daß Jugendlliche tatsächlich über den Unterschied zwischen Gewalt und Sex aufgeklärt werden können, beweist ein „Workshop“, den das New Jersey Rape Crisis Center in den Schulen veranstaltete. Nach Ende des „Workshops“ waren immerhin weniger als ein Viertel der Jugendlichen der Meinung, daß Küsse oder Sex erzwungen werden dürfen.

Besonders an den Universitäten ergreifen immer mehr Frauen selbst die Initiative, um Vergewaltiger anzuprangern. An der Brown University sind die Namen von Kommilitonen, die gewalttätig werden, für jede Frau einsehbar auf den Toilettenwänden aufgelistet. Ein Student, eingeschrieben an der Dartmouth University, mußte die Hochsachule verlassen, weil er eine Bekannte sexuell belästigte.

Als jüngst die Presse den Namen der Frau bekanntgab, die angeblich vom Neffen des Senators Ted Kennedy vergewaltigt wurde, entspann sich eine heftige Debatte um die nichtautorisierte Veröffentlichung. „Noch sind wir nicht so weit“, kommentierte die Kolumnistin Ellen Goodman, „daß wir die Opfer von Vergewaltigungen wie die Opfer anderer Gewaltverbrechen behandeln können. Jetzt, gegen den Willen der Frauen, Namen zu veröffentlichen, würde Vergewaltigung wieder in den Untergrund verbannen, die neue Offenheit dämpfen.“ Doch fügte sie hinzu: „Wir sollten eine Zukunft anstreben, in der Frauen Vergewaltiger ebenso selbstverständlich wie Diebe entlarven.“