Sehen und Gesehenwerden

■ Annegret Ritzel inszeniert „Schlußchor“ von Botho Strauß

Es geht ihnen, wie es den Party- und Bistropassanten von Botho Strauß schon seit längerem geht. Je mehr sie sehen und gesehen werden, je mehr sie schwätzen und das Zuhören vergessen, desto ortloser werden sie. Sie zappeln auf der Bühne wie in Bewegung geratene Strichmännchen und haben eine frappierende Ähnlichkeit mit Woody Allens Stadtneurotikern. „Lorenz vor dem Spiegel“ heißt diese Figur in Strauß' Schlußchor. Uraufgeführt wurde das Stück kürzlich an den Münchner Kammerspielen, in Wiesbaden kam es jetzt zum zweiten Mal auf die Bühne. Annegret Ritzel inszenierte dort die boulevardesken Neurotiker und verweigerte ihnen weitgehend den mythischen Tiefgang, den Botho Strauß seinen Figuren immer wieder andichtet.

Das Stück beginnt mit einem Standfoto. Einen Akt lang arrangieren sich Strauß' Passanten zu einem Gruppenfoto und spielen ihr Blickespiel mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit, als hätten sie sich eigens zu einem historischen Ereignis versammelt. Haben sie auch — wie man sehen wird.

Die Bühne in Wiesbaden ist mit Rinde ausgelegt, als gelte es, eine germanische Halle zu schmücken. Lorenz ist bereits mit auf dem Foto — der Architekt soll für Delia das Dachgeschoß ausbauen. Als die Passanten im zweiten Akt dann wirklich in Bewegung geraten sind, passiert, was nicht hätte passieren dürfen: Lorenz tritt in das Zimmer, in dem die nackte Auftraggeberin sich gerade abtrocknet. Nichts ist mehr, wie es war. Mythologie des Augenblicks. Botho Strauß' Figuren geraten durch augenblickhafte Erschütterungen in Gefahr und erhalten so doch etwas wie Größe. Bernd Rademacher spielt den Wiesbadener „Lorenz vor dem Spiegel“ und verlagert die tragikomische Figur nach Manhattan. Er übt Posen, die er drinnen im Saal, wo Delia gerade eine Party gibt, nie wird durchstehen können. Sein Gezappel endet im Selbstmord, und Delia geht wie eine Nymphe ab, läßt ein Tuch von den Schultern gleiten und zeigt sich noch einmal nackt. In solchen Momenten scheint Annegret Ritzel dann doch mythische Dimensionen des Textes erschließen zu wollen — die Regieanweisung läßt Delia im Spiegel erscheinen.

Ein Stück zur deutschen Vereinigung will der Schlußchor sein, eine historische Momentaufnahme — erhellt durch einen „Rufer“, der hin und wieder „Deutschland“ brüllt. Lange Zeit ist nur er ein Indiz dafür, daß Botho Strauß tatsächlich ein Stück mit Blick auf die Vorgänge Ende 89 schrieb. Im letzten Akt allerdings stehen dann gleichzeitig deutsche Gegenwart und Vergangenheit auf der Bühne. Im Taumel der Vereinigung geraten zwei Noch-DDR- Bürger in ein schickes Bistro, in dem auch ein „Leser“ sitzt, der den historischen Moment mit einem Eselsohr auf Seite 440 in Jean Pauls Siebenkäs markiert. Er steht auf und meint, er wolle sich doch einmal dieses neueste Blendwerk da draußen ansehen. Botho Strauß selbst könnte das sein — in Wiesbaden läßt man ihn wie Peter Handke in jungen Jahren aussehen, während die Rückwand des Bistros mit einem Porträtfoto von Botho Strauß gepflastert ist.

Die verbindende Figur zur Schlußszene ist Anita von Schastorf, Tochter eines erzkonservativen Widerstandskämpfers während des Dritten Reiches und im Gedenken an den Vater gealtert. Mit einem Adler hat sie zu kämpfen und zerfetzt ihn am Schluß. Ein schwer verdaulicher Happen, denn der Greif ist nicht nur ein banaler Bundesadler und die Szene nicht nur eine Exekution Deutschlands. Der Vogel, müde nur ins eigene Gefieder verliebt und untauglich zu Balz und Horstbau, steht für die Befindlichkeit von uns selbstverliebten Zeitgenossen, für unsere Unfähigkeit zur wirklichen Passion. In Wiesbaden geht man ironisch mit diesem Schluß um und dreht die Porträtfotos von Botho Strauß um — auf der Rückseite erscheinen Adlerköpfe. Jürgen Berger

Botho Strauß: Schlußchor . Regie: Annegret Ritzel. Bühne: Bernhard Kleber. Mit Bernd Rademacher, Stephanie Eidt, Petra Fahrnländer. Hessisches Staatstheater Wiesbaden. Weitere Vorstellungen: 25. und 29.5., 6., 9. und 12.6.