ai: 30 Jahre höflicher Kampf

Jahreshauptversammlung der Menschenrechtsorganisation amnesty international/ Auftakt der Kampagne zum 30. Jahrestag: „Wir erheben Einspruch“/ Probleme mit der Neutralität  ■ Aus Offenbach Heide Platen

Im großen Saal der Stadthalle von Offenbach sitzen am Samstag nachmittag nur wenige der rund 1.000 Delegierten und Gäste der 30. Jahrestagung vom amnesty international (ai). In den Nebenräumen tagen die Sachkommissionen der „Deutschen Sektion“. Rund um die Halle kündigen große Schilder den runden Geburtstag an. Dennoch werden Neugierige abgewiesen. Junge Frauen erklären ihnen beredt, daß die internen Diskussionen der Menschenrechtsorganisation, die am 28. Mai 1961 von dem englischen Rechtsanwalt Peter Benenson gegründet worden war, viel zu diffizil und empfindlich für die Ohren der Öffentlichkeit seien. Sie sind schon sehr stolz darauf, daß bei der Veranstaltung am Vormittag „zum ersten Mal in unserer Geschichte“ für eine Stunde die Medien eingelassen wurden. Dabei sind es gerade die Medien, die drinnen abgehandelt werden. Ein Redner rügt heftig, daß viele Delegierte „den Privaten“ zu wenig Aufmerksamkeit widmeten: „Die sind genauso dazu da, unsere Inhalte zu transportieren, wie die anderen auch!“ Das meiste, was an diesem Nachmittag im Saal noch verhandelt werden wird, ist, ebenso wie bei jedem anderen Verein auch, von ähnlich geringer Geheimhaltungsqualität. „Quatsch“, findet denn auch einer der Organisatoren dieses Abschotten bei einem Verband, der fast ausschließlich durch seine Öffentlichkeitsarbeit wirksam wird: „Sich einschleichen und mitschreiben, das kann hier trotzdem jeder, der daran, warum auch immer, Interesse hat.“

Dennoch ist gerade dies der Drahtseiltanz, der ai so wirksam macht. Das strikte politische Neutralitätsgebot festigt den Stand gegenüber jeder Regierung, von der Diktatur bis hin zu den Demokratien mit kleineren oder größeren menschenrechtlichen Webfehlern. Um so strenger sind die Kriterien, die an die politischen Gefangenen angelegt werden, für deren Freilassung ai in aller Welt kämpft. Echte „Adoptionsgefangene“ können nur Menschen werden, die nachgewiesenermaßen unschuldig im Gefängnis sitzen und sich ausdrücklich zur Gewaltfreiheit bekennen. Durch dieses Raster ist zum Beispiel Nelson Mandela durchgefallen. Alle Inhaftierten, die diesen Anforderungen nicht lupenrein entprechen, werden akribisch überprüft. Das geschieht in der Zentrale in London, wo 180 Rechercheure Informationen zusammentragen, und in den kleinen Orts- und Bezirksgruppen der „Sektionen“ in 130 Ländern mit rund 2,3 Millionen Mitgliedern. In der Bundesrepublik arbeiten allein 600 Gruppen mit fast 12.000 Mitgliedern. Auch in der ehemaligen DDR gibt es regen Zuspruch. Pressesprecherin Susanne Erdl: „Die sind anfangs wie Pilze aus dem Boden geschossen.“ Inzwischen habe sich die Entwicklung dort mit 15 aktiven Gruppen „auf ein normales Maß“ eingependelt. Der Rückgang sei vor allem darauf zurückzuführen, „daß die Menschen erst einmal zu viele private Probleme lösen müssen“. Niemals darf eine Gruppe einen Fall aus dem eigenen Land betreuen. Das würde das Neutralitätsgebot verletzen.

ai: Kritik an Apartheid streng verpönt

Die strengen Regeln kommen gerade die jungen Mitglieder manchmal hart an. Michael Musch arbeitet mit seiner Gruppe in Aalen vor allem über Südafrika. Es ist streng verpönt, die Apartheid anzugreifen, denn Verhandlungspartner um das Schicksal einzelner Menschen ist die südafrikanische Regierung: „Das habe ich dann gefälligst rauszulassen. Meine Meinung dazu kann ich höchstens als Privatmensch sagen.“ Marc Weissgerber, für die Öffentlichkeitsarbeit im Rhein-Main-Gebiet zuständig, drückt das noch vorsichtiger aus: „Der politische Diskurs muß so sein, daß die Meinung des anderen nicht unterdrückt wird.“ Und wieder Musch: „Den Menschen ist es doch auch völlig egal, ob ihr Folterer ein Linker oder ein Rechter oder was auch immer ist.“ „Standard“ sind jedenfalls die Menschenrechte. „Folter und Todesstrafe sind indiskutabel“, so Weissgerber.

Natürlich setzt sich ai auch für Gefangene ein, die den gewaltfreien Kriterien nicht entsprechen. Nur werde dann eben keine Freilassung gefordert. Angegriffen fühlt er sich auch wegen der „Eilaktionen“, bei denen Regierungen „in höflichem Ton“ mit Briefen und Karten aus aller Welt gebeten werden, Leben und Unversehrtheit einzelner Gefangener zu schonen. Diese Höflichkeit werde ihnen häufig als Schwäche angekreidet. Dabei seien gerade diese Kampagnen „mit 30 Prozent sehr erfolgreich“. Er weiß aber, daß solche Zurückhaltung in den Gruppen psychische Probleme auslösen kann, wenn der Zwang dazu allzu sehr mit der persönlichen Meinung kollidiert. Das wird diskutiert und im Zweifelsfall „streng nach der Sachlage“ entschieden. In Weissgerbers Gruppe war einer der kontroversen Punkte die Frage, ob die Gewalt der KämpferInnen der Resistance im Faschismus nach den amnesty-Kriterien auch hätte geächtet werden müssen. Die Motive zur Mitarbeit sind „durch alle Alters- und Berufsgruppen“ unterschiedlich. Musch kam zu ai, weil er sich schon als Schüler für Südafrika interessierte und „Nelson Mandela für mich ein Vorbild war“. In die Gruppe hat er sich langsam integriert. Am meisten gefreut hat er sich, wenn seine Gruppe eine Freilassung erreicht hat. Aber „schön ist es auch, daß mir im vorigen Sommer auf eine Aktion hin ein 70jähriger ehemaliger Parlamentspräsident aus Laos schrieb“. Auch die Briefe aus US-amerikanischen Todeszellen erschüttern ihn und geben seiner Arbeit einen Sinn. Dort betreuen die Aalener den Gefangenen Schwarzen Gary Tyler, der ihrer Meinung nach kein faires Verfahren hatte. Tyler soll als 16jähriger Schüler bei Unruhen in Louisina einen 13jährigen weißen Jungen erschossen haben. Die Todesstrafe ist inzwischen in lebenslanges Zuchthaus umgewandelt worden. Amnesty unterstützt jetzt ein Gnadengesuch.

Tyler ist einer der 30 Fälle, die ai in der nächsten Zeit im Rahmen seiner Jubiläumskampagne „Wir erheben Einspruch“ als „Appellfälle“, besonders eklatante Fälle von Menschenrechtsverletzungen, anprangern will. Zu ihnen gehören eine „verschwundene“ Angolanerin, ein griechischer Kriegsdienstverweigerer, eine im Iran getötete Physikerin ebenso wie ein in Israel gefolterter Palästinenser und ein Oppositioneller in Kuba.

In einer Abschlußerklärung legte die Versammlung, die sich mit den Schwerpunkten Golfkrieg, Osteuropa und Asylpolitik in der Bundesrepublik beschäftigte, fest, daß „menschenrechtsverletzende Regierungen künftig schonungsloser anzuprangern“ seien. Sie plädierte für die Beibehaltung des Grundrechts auf Asyl und forderte, „den Rechtsschutz für Asylsuchende auf dem Gebiet der ehemaligen DDR unverzüglich herzustellen“. Bis dahin dürften Asylsuchende „nicht in die neuen Bundesländer verteilt werden“.