Ölbaum, Nebel und Laternenpfahl

Demokratie-Übungen/ In Gorenzen waren sie alle da — die Edlen und die Praktiker, die Aufsässigen, die Ideologen, Verbindliche, Unverbindliche und der unheimliche einsame Soldat  ■ Von Ricarda Horn

Hier die Realos und die Freiheit — dort die Fundis und die Gerechtigkeit, dazwischen die Bürgerbewegung aus Neuostdeutschland. Zur Pflege ihres Leibes nahm sie dieses Duschbad in Gorenzen im schönen Harz. Man debattierte Osten gegen Westen, Grüne gegen die Bürgerbewegung, Macht gegen Basis, Freiheit gegen Gutes, Gutes gegen Freiheit und Straße gegen Parlament. Beispielweise: K. Eigenfeld: „Parteienparlament ist ein ritualisierter Machtmißbrauch“; R. Schult: „Ist Zirkus!“; S. Geißler: „Ich bin völlig machtlos!“; U. Knapp: „Heuchelei!“; A. Vollmer: „Kokett!“; F. Eigenfeld: „Schwerpunkt suchen!“; P. Jeschke: „Ingrid, sag du mal!“; I. Köppe: „Parlament ist nicht von vornherein abzulehnen, aber immer wieder aufs neue kritisch zu hinterfragen“; U. Knapp: „Sie darf hier nicht sagen, daß sie eine ausgezeichnete Parlamentarierin ist. In diesem Kreis darf sie das nicht sagen!“

Gab es ein Ergebnis? Es gab zum Schluß eine geschärfte Sensibilität für die Frage: Was ist Demokratie?

Wo fängt sie an? Wo hört sie auf? Begann sie unter einem Ölbaum, nach Göttern und Kleinvieh stinkend, mit griechischem Maß die semantische Lust an der Rechtsdebatte pflegend? Stand Aristoteles Pate und sein Zoon politikon oder die griechischen Tragödien oder die Theoretiker des Individuums, Sokrates, den sie töteten? War sie überhaupt eine Demokratie, oder war diese Epoche, die alle anderen überragte und bis heute weiterwirkt, „dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit aber die Herrschaft des ersten Mannes“, wie es Thukydides, an Perikles denkend, sah.

War es vielmehr der Nebel des hohen Nordens, der sie zeugte und die psalmodierenden Krieger Cromwells, der den Kopf Karl Stuarts an ihren eisernen Brüsten spaltete. Aus ihren Kehlen kam die Neuzeit: Life! Liberty! Estate! Sie, die Independenten und Kongregationalisten jagten die Bischöfe davon, vernichteten die kirchlichen Ämter, richteten das Rederecht für alle ein und gründeten das Parlament der Heiligen, welches seine täglichen Sitzungen mit heißen Gebeten begann und mit verzückter Raserei beendete. Der umdüsterte Schöpfer der ersten parlamentarischen Republik, Cromwell, schickte sie schließlich zur Hölle und, mit allen Parteien zerfallen, von Verschwörern bedroht, schuf in finsterer einsamer Despotie die bürgerliche Gesellschaft, den Kapitalismus und die Demokratie. Wenn es aber die nordischen Nebel nicht waren, die sie zeugten, waren es dann vielleicht die versteinerten Schatten der Bastille? Hier knüpften die Jakobiner ihre duftenden Königinnen an die Laternenpfähle, schafften die christliche Zeitrechnung ab und noch im Jahre I das Christentum per Beschluß. Sie feierten ein Fest der Vernunft in Paris, richteten Runde Tische ein, („...Das Volk muß sich mit dem Konvent verbünden, und der Konvent muß sich auf das Volk stützen...Jeder sei Mitglied des Souveräns und somit am Wirken fürs Allgemeinwohl beteiligt...“, Robespierre), und kämpften im Jahre II einen verzweifelten Kampf gegen die Armut mit dirigistischer Ökonomie. Jetzt führten sie per Beschluß ein höchstes Wesen ein, die Unsterblichkeit und ordneten seinen Kult an mit dem Ziel einer widerspruchsfreien Gesellschaft. Nicht der Terror der Verwüstung, der Terror des Guten kostete ihnen den Kopf — Marat in der Badewanne, Robespierre, Danton, Saint-Just auf der Guillotine. Ihr Schrei: Liberté, Egalité, Fraternité — war das der Geburtsschrei Europas?

Obwohl er es war, hat ihnen keiner das zugestanden. Fichte: „Unter den Augen der Zeitgenossen hat das Ausland... die Aufgabe der Errichtung des vollkommenen Staates leicht und mit Kühnheit ergriffen und kurz darauf dieselbe... fallenlassen“... daß es jetzt „alles anwenden müßte, um jene Bestrebungen aus den Jahrbüchern seiner Geschichte zu streichen“. Für Edmund war „diese Vermischung von Aufklärung und Revolution mit dem total willkürlich-abstrakten Charakter der aufklärerischen Ideen die Zerstörung und Auflösung der ganzen Gesellschaft“. Wieder war es ein Soldat, der das Durcheinander ordnete und in babylonischer Einzelherrschaft die bürgerliche Gesellschaft und den europäischen Rechtsstaat schuf — Napoleon.

Und heute?

In Gorenzen waren sie alle da — die Edlen und die Praktiker, die Aufsässigen, die Ideologen, Verbindliche, Unverbindliche und der unheimliche einsame Soldat, der im Turnerschen Nebel die Demokratie, um sie einzuführen, abschafft — er war auch schon da.

Gibt es irgend eine Neuigkeit?

Nein.