Überfällig

■ Niedersächsische Landesregierung lehnt Rechtsmittelverkürzungsgesetz ab

Überfällig Niedersächsische Landesregierung lehnt Rechtsmittelverkürzungsgesetz ab

Die Argumentation ist zynisch: Mit der massiven Beschneidung der Rechtsmittel in Strafverfahren sollen die Ressourcen freigestellt werden, die beim Aufbau der Justiz in den neuen Ländern fehlen.

Das Bedrohliche dieses Vorhabens liegt freilich nicht nur in der Zumutung eines moderierten Rechtsstaates, sondern in der Tatsache, daß sich eine parteien- und länderübergreifende Koalition aller Justizminister im April für eine solche Gesetzesinitiative hergab. Nur weil sich diese Koalition der ministeriellen Rechtsmittelbeschneider trotz anhaltender Kritik des Richterbundes, des Anwaltsvereins und der Bundesanwaltskammer fast einen Monat lang aufrechterhalten ließ, wirkt jetzt das Selbstverständliche wie ein Befreiungsschlag: der niedersächsische Ministerpräsident und Rechtsanwalt Gerhard Schröder qualifiziert den Vorstoß der Länder als „abenteuerlich“ und kündigt an, daß Niedersachsen einen entsprechenden Gesetzentwurf ablehnen wird. Bleibt zu hoffen, daß jetzt weitere Länderregierungen den Mut finden, ihre bislang nur hinter vorgehaltener Hand geäußerten Bedenken öffentlich zu machen und das Vorhaben ad acta legen.

Westliche Solidarität mit den östlichen Bundesländern wird in dem Maße unabweisbar, wie der ökonomische und soziale Niedergang die verflogene Euphorie der Neubundesbürger in Defätismus verwandelt und die gesellschaftliche Spaltung vertieft. Aber es verwundert schon, daß die westlichen Länderregierungen gegenüber der Forderung nach materieller Umverteilung zäh ihre Besitzstände verteidigen, während sie ausgerechnet in der Frage des Rechtsschutzes eine fatale Kooperationsbereitschaft an den Tag legen. Doch der Rechtsstaat ist ebensowenig ein Feld für Solidaropfer wie die Partizipationsrechte der Bürger bei der Planung von Großprojekten. Es wäre ein paradoxes Ergebnis, wenn der friedliche Umsturz im Osten, der dort erst die Voraussetzungen für die Etablierung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schuf, jetzt im Westen für die Beschneidung von Rechtsstaatlichkeit instrumentalisiert würde. Ohnehin ist noch nicht absehbar, welches Gefährdungspotential die sozialen Verwerfungen im Osten für die Entwicklungsperspektiven der gesamtdeutschen Demokratie bergen. Gerade deshalb verbietet sich gerade hier das restriktive Experiment von oben. Matthias Geis