Schäfer, Schafe und Wolf

Ungestört und abgeschirmt vor den Augen der Weltöffentlichkeit will die chinesische Regierung den vierzigsten Jahrestag der Herrschaft über Tibet feiern/ Keine Details über Feierlichkeiten  ■ Aus Chengdu Simon Long

In der tibetischen Hauptstadt Lhasa herrscht ein unerklärter Ausnahmezustand. Die chinesischen Behörden haben Vorkehrungen getroffen, jegliche Anzeichen oppositioneller Aktivitäten zu unterdrücken, denn am Donnerstag sollen die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der chinesischen Herrschaft über Tibet ungestört über die Bühne gehen.

Für den Fall, daß es doch zu Unruhen oder Störungen kommen sollte, ist sichergestellt, daß sowenig wie möglich an die Außenwelt dringt. Tibet ist für ausländische Journalisten geschlossen, obwohl die Feierlichkeiten der Pekinger Regierung ursprünglich die Gelegenheit geben sollten, der Welt zu beweisen, das die Lage in Tibet „stabil“ sei. Zur Begründung erklärte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums in der vergangenen Woche: „Die tibetische Bevölkerung ist damit beschäftigt, sich für die große Feier zum vierzigsten Jahrestag der friedlichen Befreiung Tibets vorzubereiten. Sie haben nur eine begrenzte Kapazität zum Empfang von Besuchern, deshalb wird es für ausländische Journalisten schwierig sein, hinzufahren.“

Wohl aus Sicherheitsgründen sind auch keine Einzelheiten darüber veröffentlicht worden, in welcher Form gefeiert werden soll. Gerüchten zufolge sollen Pläne für eine Militärparade fallengelassen worden sein, weil sie als zu provokativ eingeschätzt wurden.

Hier in Chengdu, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichuan, die an Tibet grenzt und der wichtigste Ausgangspunkt für die Flüge nach Tibet ist, sagen die Mitarbeiter der Reisebüros, daß fast alle Ausländer aus Tibet ferngehalten werden sollen. „Die Sicherheitskräfte fürchten Ärger“, meinte einer von ihnen. Stillschweigend sind die Einreisebestimmungen verschärft worden.

Besucher, die kürzlich in Lhasa waren, berichten von strengen, aber diskreten Sicherheitsmaßnahmen. Ausländer wurden ermahnt, nach dem Dunkelwerden nicht mehr aus dem Hotel zu gehen, und die Büros sind für eine Woche geschlossen. Andere Berichte lassen vermuten, daß zusätzliche Militärtrupps im Vorfeld der Feierlichkeiten für den Jahrestag nach Tibet geschickt worden sind. Doch trotz der starken Präsenz der Sicherheitskräfte hat es im vergangenen Monat weiter leise Proteste gegen die chinesische Herrschaft gegeben, etwa kleinen Poster mit Unabhängigkeitsparolen und Flugblätter.

Die Behörden fürchten, daß die „große Feierlichkeit“ tibetische Nationalisten zu antichinesischen Demonstrationen provozieren könnte. Seit dem Oktober 1987 sind zu unterschiedlichen Anlässen antichinesische Proteste gewaltsam unterdrückt worden. Nach den schwersten Protesten im März 1989 war Lhasa für über ein Jahr unter Ausnahmezustand gestellt worden.

Gefeiert werden soll nun der vierzigste Jahrestag der Unterzeichnung unter das „17-Punkte-Abkommen“, mit dem Vertreter der tibetischen Regierung des Dalai Lama die Oberherrschaft Pekings anerkannten. Ngapoi Ngawang Jigme, der die tibetische Delegation im Jahre 1951 leitete, ist seitdem hoher Funktionär in der chinesischen Administration geworden. Am vergangenen Samstag machte er sich wieder nützlich und empfing auf dem Flughafen von Lhasa die „zentrale Delegation“, die zur Teilnahme an den Feierlichkeiten aus Peking eintraf. Leiter der Pekinger Delegation ist das Politbüro- Mitglied Li Tieying. Er soll der Sohn von Li Weihan sein soll, der das chinesische Verhandlungsteam vor vierzig Jahren anführte.

Der Dalai Lama, der nach einem gescheiterten Aufstand gegen die chinesische Herrschaft im Jahr 1959 ins Exil floh, hat dieses Abkommen nicht anerkannt. Die chinesische Regierung hat erklärt, daß der Aufstand von 1959 den Paragraph 4 des Abkommens außer Kraft gesetzt habe. Dieser Paragraph hielt fest, daß China sich nicht in das tibetische Gesellschaftssystem einmischen und die Macht des Dalai Lama nicht antasten werde.

China hat den Jahrestag zum Anlaß für eine konzertierte Propagandakampagne genommen, um dem wachsenden Einfluß des Dalai Lama im Ausland entgegenzuwirken. Der Dalai Lama hatte im Jahr 1988 seine Forderung nach voller Unabhängigkeit Tibets zugunsten größerer Autonomie innerhalb Chinas fallengelassen. In jüngster Zeit hat er jedoch erklärt, die chinesische Unnachgiebigkeit zwinge ihn dazu, dieses Zugeständnis zurückzuziehen.

China war besonders gepiekt über den diplomatischen Triumph des Dalai Lama im vergangenen Monat, als er zu einem „privaten Gespräch“ mit US-Präsident Bush empfangen wurde. Die Reaktion der Pekinger Regierung war anfangs relativ gedämpft — wohl im Hinblick auf die amerikanischen Diskussionen um die Verlängerung der Meistbegünstigungsklausel für China. Seitdem jedoch hat China seine Propaganda hochgefahren und versucht den Dalai Lama persönlich mit den düstereren Aspekten des alten und theokratischen Tibet in Verbindung zu bringen. So zitierte die 'Peking Rundschau‘ den Brief eines Mönches an einen Stammesführer, der um einen Beitrag zu einer Opferzeremonie bat: „Ein paar nasse Eingeweide, zwei Köpfe, verschiedene Arten von Blut und die Haut eines Mannes werden dringend benötigt.“ Und die amtliche Nachrichtenagentur 'xinhua‘ wiederholt zwecks Darstellung Chinas als Retter der tibetischen Massen von der grausamen „Dalai- Clique“ „eine alte Geschichte“: „Ein Schäfer vertrieb einen Wolf und wurde deshalb von den Schafen als Befreier gefeiert. Aber der Wolf beschuldigte ihn, seine Freiheit zu verletzen.“

Doch die „Schafe“, durch den „Schäfer“ vor den Augen der Weltöffentlichkeit abgeschirmt, scheinen gegen die Aussicht auf Feierlichkeiten zur „Befreiung“ zu rebellieren.