Bergmann-Erbe liegt brach: Gute Nacht, Ingmar

■ Skandinavische Filmtage im Eiszeit: Kaurismäki, von Trier, Zetterling

Der skandinavische Film ist dem deutschen Filmfeuilleton fremd (Ausnahme: Ingmar Bergmann). Andererseits gilt es, den europäischen Autorenfilm gegen die massenverdummende Operation Hollywood zu verteidigen. So greifen die Wahrer des guten Films, Felsen in der amerikanischen Brandung, gerne in die Vergleichskiste, um dem Publikum fördernswerte Regisseure wie Aki Kaurismäki (Finnland), Lars von Trier (Dänemark) oder Mai Zetterling (Schweden) nahezubringen. Aki Kaurismäki wird aus Vermittlungsgründen bevorzugt als der Rainer Werner Faßbinder aus Helsinki gehandelt, Lars von Trier ist die dänische Antwort auf Tarkowski und Mai Zetterling sowieso das weibliche Pendant zu ihrem Landsmann Ingmar Bergmann. Die verwickelte Epigonen- und Vergleichslage kann allerdings durch das unumstößliche Erste Bergmann-Axiom bereinigt werden: Der nordische Film ist depressiv- grüblerisch und rüttelt an den Grundfragen menschlichen So-Daseins.

1987 mußte darum Kaurismäkis erster Film auf deutscher Leinwand (Schatten im Paradies) zum Flop werden. Alle sahen nur bergmannsches Dutzendelend und einigten sich darauf, hier sei ein »sehenswertes« und »streckenweise anrührendes Melodram über Liebe und ihre Chancen in einer feindlichen Umwelt« zu uns gelangt. Aber eigentlich war einem die Original-Bergmann-Tragödie doch lieber. Erst allmählich verstärkte sich der Eindruck, daß man in Kaurismäki-Filmen auch lachen durfte. Bis heute hält sich allerdings hartnäckig die Meinung, daß es sich dabei um einen »Humor der Verzweiflung« handeln muß. Bei Kaurismäki gehe es zwar »anrührend (s.o.) komisch« zu, aber vor allem eben ganz besonders »unendlich traurig«: Unter dem Ersten Bergmann-Axiom macht es das deutsche Filmfeuilleton nicht. Konsequenterweise haben sie dem Finnen auch nie Leningrad Cowboys go America verziehen, wo sie vergeblich nach dem nordisch-anrührend Gründelnden fahndeten.

Wer will, kann das alles erfolgreich in den beiden Frühwerken Calamari Union und Crime And Punishment entdecken. Gerade Crime And Punishment bietet sich dem Liebhaber der Anrührung an (die Romanvorlage stammt von dem als Tiefgrübler verkannten Großkomiker F.M. Dostojewski). Alle anderen können das grüblerische Element unbekümmert vernachlässigen. Aki Kaurismäki: »Crime And Punishment ist eine Hommage an die goldenen Jahre, als ein einziger Mord für einen Krimi ausreichte.« Der Mord wird von einem jungen Schlachthofarbeiter an einer Stütze der Gesellschaft begangen. Stütze der Gesellschaft: »Warum?« Junger Mann: »Das werden Sie nie erfahren.« Schuß. Folgen Schuldgefühle und daraufhin Bereitschaft zur Sühne. Aber der Gesellschaft, deren Stütze der junge Mann gerade beseitigt hat, ist das so ziemlich scheißegal. Die zur Sühnung auferlegte Gefängnisstrafe ist ein sinnloses Ritual, reinigende Katharsis eine Idee fürs halbgebildete Publikum. Sühne erleichtert bloß dem Kommissar die Verhaftungsarbeit. Das ist alles. Ein unverzichtbarer Bestandteil des Kaurismäkischen Werkes ist die Flucht aus Helsinki. In Crime And Punishment wegen Sühnebereitschaft gescheitert, in Schatten im Paradies und Ariel als Schlußbild gewählt. Calamari Union behandelt die Fluchtbewegung über die volle 80-Minuten- Distanz. 17 Männer, die alle Frank heißen, wollen ans andere Ende der Stadt (Helsinki), dorthin, wo es besser ist. Die Unwirtlichkeit der Stadt zwingt sie zu diesem Schritt. Gemeine, alte Frauen, die ihnen die Sitzplätze in der U-Bahn wegschnappen, kläffende Köter und Kinder sowie die Unterdrückung im allgemeinen machen das Leben zur Hölle. Calamari Union — Good Night, Frank ist zum Grundverständnis des Kaurismäkischen Witzes unerläßlich.

Der Fall Lars von Trier ist ganz anders gelagert. Mitte der Achtziger, als alle Welt in West-Berlin der Endzeitstimmung nachspürte, kam v. Triers Element Of Crime gerade recht und brachte es zu einem der beliebtesten Mitternachtsvorstellungsfilme. Und weil Element Of Crime das Weltuntergangsgefühl durch schwarz- gelb-farbene Bilder in beeindruckende ästhetische Höhen schraubte, fanden auch hartgesottene Cineasten daran Gefallen. Es hagelte erstens Faßbinder-Vergleiche und zweitens Tarkowski-Verweise (weil bei dem auch soviel Wasser von der Decke tröpfelt). Von Trier blieb dem allseitigen Verfall treu und nannte den nächsten Film Epidemic, der in acht Teilen zwanglos die Geschichte der Seuche in Europa erzählt (Weinpest in Frankreich, Epidemien des Mittelalters, Chemie-Headquarter des Bayer- Konzerns in Leverkusen). Gleichzeitig ist es ein Film über das Filmemachen. Lars von Trier: »Ein Film sollte wie ein Kieselstein in deinem Schuh sein.« Epidemic ist der zweite Teil seiner Europatrilogie (Trier: »Substanz, organisch«). Teil eins ist natürlich Element Of Crime (»Substanz, nichtorganisch«), während Teil drei gerade in Cannes gezeigt und mit dem Preis der Jury belohnt wurde: Europa (»Substanz, konzeptuell«). Was immer das substanzmäßig auch heißen mag, Lars von Trier lädt zum Grübeln ein, kommt dem Bild des skandinavischen Regisseurs recht nahe, verweigert aber letztendlich das verlangte »Anrührende«, ohne das kein nordischer Film sein kann.

Am ehesten entspricht darum vielleicht Mai Zetterling dem bergmannschen Idealbild. Erstens kommt sie aus Schweden und zweitens wurde sie ähnlich wie Bergmann durch (Sex)- Skandalfilme berühmt. Ihren ersten Spielfilm Liebende Paare drehte sie 1964. Die Romanvorlage stammt von Agnes von Krusentjerna, die in den dreißiger Jahren als Schwedens Tabubrecherin Nummer eins galt. Bei den Filmfestspielen in Cannes 1965 konnte Zetterling mit ihrem Film über Liebe, Sex und Frauendasein immerhin noch einen Tumult auf der Pressekonferenz auslösen und den Bürgermeister veranlassen, die Plakate zu überkleben. Ein Jahr später verzeichnete Zetterling auf der Biennale in Venedig mit Verschwiegene Spiele einen ähnlichen Erfolg. Das Plakat wurde zensiert, die Programmhefte eingeschwärzt, zur Vorführung waren nur die Jury und Journalisten zugelassen, um sich einen mit den Mitteln des Mutter-Sohn-Inzests ausgeführten Anschlag auf Heim, Herd und Familie anzusehen.

Zetterlings bislang letzter Film ist Amorosa (1985), die Lebensgeschichte der Schriftstellerin Agnes von Krusentjerna, deren Roman Liebende Paare Zetterling für ihr Spielfilmdebüt verwendete. Trotz guter Startvoraussetzungen (Schwedin, Skandalfilme) fehlen Mai Zetterling zur bergmannschen Vollreife das Verhärmt-Quälerische und der Ingmar-typische Pfarrhaus-Masochismus. Ganz wichtiger letzter Hinweis: Bergmann-Filme werden nicht gezeigt. Gunske

Während der skandinavischen Filmtage (23. bis 30. Mai) zeigt das Eiszeit folgende Filme: Kaurismäki: Calamari Union, Crime And Punishment; von Trier: The Element Of Crime, Epidemic, Images Of A Relief, Nocturne; Zetterling: Liebende Paare, Verschwiegene Spiele. Außerdem die zwei Kurzfilmpakete Dänen lügen nicht und Finnen reden doch. Genauere Termine bitte dem Programmteil entnehmen.