Woran man sich nicht erinnert

„Ein Engel an meiner Tafel“ — ein Film der Neuseeländerin Jane Campion  ■ Von Christiane Peitz

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eil ich ein schlechtes Gedächtnis habe, mache ich mir beim Filmegucken im Dunkeln oft Notizen: schreibe Zitate auf, ungewöhnliche Details oder eine Filmmusik, die ich wiedererkenne. Wenn der Film gut ist, läßt sich anhand des Gekritzels später jede Szene vergegenwärtigen. Taugt er nichts, ist die ausführlichste Mitschrift wertlos.

Bei Jane Campions Film habe ich fast nichts notiert. Nur ein paar Namen und unnütze Stichworte wie „Menstruation“, „Psychiatrie“, „Romanze“. Ein Engel an meiner Tafel (so der unglückliche allzu wörtlich übersetzte deutsche Titel für An Angel at my table) hat nichts Auffallendes. Nichts, was ins Auge springt, keine wichtigen Sätze. Oder, genaugenommen, nur einen: „Wie kann ich um Hilfe bitten, wenn mir nichts fehlt.“ Das sagt die lange für schizophren gehaltene Dichterin Janet Frame nach acht Jahren Psychiatrie und einem weiteren Aufenthalt im Hospital, als ihr erklärt wird, sie sei gesund. Ihre Schizophrenie war eine Fehldiagnose.

Wie kann ich um Hilfe bitten, wenn mir nichts fehlt: Ein Engel an meiner Tafel ist ein Film über das Erwachsenwerden. Darüber, „wie man ein Verhältnis zur Realität bekommt“, sagt die Regisseurin. Erzählt werden Kindheit und Jugend Janet Frames, einer der berühmtesten neuseeländischen Dichterinnen — eine Art Lehr- und Wanderjahre also. Aber der Film berichtet nicht von tragischen Ereignissen, vom Verlust der Unschuld oder vom Konflikt zwischen dem heranwachsenden Individuum und der Welt um es herum. Nicht, daß es keine Tragik, keinen Verlust, keinen Konflikt gäbe: nur hat all das bei Campion nichts Spektakuläres. Sie richtet ihr Augenmerk vielmehr auf das sogenannte Normale. Jane Campions Film zeigt das, was sonst im Kino weggelassen wird.

Zum Beispiel Kindheit. Man kennt sie sonst aus kurzen Rückblenden; Jane Campion widmet ihr den gesamten ersten Teil ihrer Filmtrilogie: eine Stunde lang nichts als Kindheit. Janet (Alexia Keogh und, etwas älter, Karen Fergusson) ist ein dickes, rothaariges Mädchen mit aufgetragenen Kleidern und einer immer verschnupften Stimme. Die Geschwister sind zahlreich, die Eltern arm, aber sie lieben ihre Kinder. Der Bruder hat epileptische Anfälle, die Lieblingsschwester will Filmstar werden, und das spanische Nachbarsmädchen tanzt Flamenco unter der Teppichstange. Mit ihrer Freundin beobachtet Janet die Schwester mit einem Jungen im Gebüsch und erzählt den Vorfall nichtsahnend beim Abendessen. Dabei benutzt sie das Wort „fuck“. Der Umgang mit der Freundin wird ihr ab sofort verboten. Sie gewinnt eine Auszeichnung in der Schule und darf im Athenäum die Bibliothek benutzen: Sie leiht sich Märchenbücher aus, liest Gedichte und bringt jedem Familienmitglied ein Buch mit.

Eine glückliche Kindheit. Trotz rigider Moral der Eltern und einer strengen Lehrerin. Die Freiheit von Janet, ihren Schwestern und Freundinnen können sie nicht nehmen. Ihr Lieblingsmärchen ist das von den zwölf Prinzessinnen, und sie leben in diesem Märchen. Die Erwachsenen sind ein Teil davon.

Jane Campion hat die Kindheit aus Janet Frames Autobiographien rekonstruiert. Weder dramatisiert sie diesen Zustand, noch verklärt sie ihn. Aber es wäre falsch zu sagen, daß sie ihn einfach zeigt. Sie ist keine nüchtern dokumentierende Beobachterin, umgekehrt solidarisiert sie sich nicht eilfertig mit den Kindern als den Schwächeren. Was Ein Engel an meiner Tafel von anderen verfilmten Kindheiten unterscheidet, ist der Blick selbst. Der Film sieht und begreift tatsächlich nicht mehr, als Janet sieht und begreift: Die Trennungslinie zwischen Märchenwelt und Wirklichkeit, zwischen den unendlichen Räumen der Phantasie und der Beengtheit der häuslichen vier Wände ist noch nicht gezogen, das „Wichtige“ noch nicht vom „Unwichtigen“ geschieden. Das Verbot des Kaugummis in der Schule ist nicht weniger Erlebnis als der erste Anfall des Bruders oder der Tod der Lieblingsschwester: Ein Engel an meiner Tafel kennt keine Marginalien. Erst später gewinnt der Tod der Schwester biographische Bedeutung.

Jane Campion arbeitet nicht mit Tricks, nicht mit Kamera aus Kinderperspektive oder von Erwachsenen inszenierten Kinderphantasien. Daß sie es nicht nötig hat, liegt unter anderem an Neuseeland. Das Grün der Wiesen, das Licht und der überklare Himmel wirken künstlich, wie surrealistisch. Aber die Farben des Films sind nicht manipuliert. Campion: „Das Licht in Neuseeland ist schockierend kräftig, die Farben sind wie Primärfarben und die Schatten so schwarz, daß man keine Details darin erkennen kann. Neuseeland ist ein Land mit sehr starkem Aroma. Ich mag diese Intensität. Die europäischen Maler, die nach Neuseeland kamen, kamen meist mit diesem Licht nicht zurecht. Sie glaubten es nicht.“ Das Unglaubliche dieser Bilder, das Phantastische ist nichts als die reine Wirklichkeit. Dieser Rahmen — das neuseeländische Licht — macht, daß all das sorgsam rekonstruierte, der abgegriffene Schulkragen, die kaputten Schuhe, das wirre Haar, die schäbigen Möbel und die vergilbten Wände (hier verwendet Campion ausnahmsweise Gelbfilter) eben nicht nach Verkleidung und Inszenierung aussehen wie in so vielen Filmen, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts spielen. Da, wo sie nachstellt, behauptet Campion nicht Wirklichkeit, und dem Realen — etwa dem Licht — haftet die Künstlichkeit eines Gemäldes an.

Wahrnehmung ist immer eine Täuschung: Mit Erstaunen registriert man, daß wir dieser Kinderwelt — als einer, in der die Trennungen noch nicht vollzogen sind — nicht im geringsten entwachsen sind.

Janet Frame, das glückliche, dicke Kind wird zum Sonderling. Hochintelligent, aber einsam. Sie wird Lehrerin, versagt, als der Schulrat zur Visite kommt, versucht sich umzubringen. Sie kommt in die Psychiatrie, acht Jahre lang wird sie dort verwahrt, über 200 Elektroschocks muß sie über sich ergehen lassen, und nur die Veröffentlichung und der Erfolg ihrer Erzählungen verhindern, daß sie einer unwiderruflichen Gehirnoperation unterzogen wird. Kommentarlos, wie sie eingewiesen wurde, wird sie auch wieder entlassen. Der zweite Teil der Trilogie: eine Horror-Story. Jane Campion setzt sie in Szene wie den ersten: behutsam, fast sanft. Als scheue sie sich anzuklagen. Was die Geschichte nicht entschärft, im Gegenteil. Eben der Verzicht auf jede Anklage macht das Verbrechen an dieser jungen Frau schier unerträglich mitanzusehen. Mehr noch: Die Autobiographie der Dichterin vermerkt den Tod der Lieblingsschwester und auch einer weiteren Schwester als mögliche Ursache für Janets Verschlossenheit. Der Film behauptet nicht einmal das. Er weiß genausowenig wie Janet selbst, warum sie sich zurückzieht. Er sieht es nur.

Zum Beispiel die schönen Mädchen. Auf dem College gehört Janet zu den Intellektuellen. Sie sitzen auf den Stufen im Treppenhaus und führen kluge Gespräche, über Literatur, Beruf und Studium, und Janet sitzt dabei. Aber sie schaut zu den Mädchen auf der anderen Seite der Treppe. Sie reden über den Flirt am Samstagabend und über Filmstars, sie haben geschminkte Münder und schlanke Taillen. Janet registriert ihre Weiblichkeit. Vielleicht ist es auch Bewunderung. Aber niemals äußert sie Neid, nie imitiert sie die anderen. Es ist nur ein Seitenblick.

Wenn sie sich selbst anfaßt, dann wie etwas Fremdes. Sie berührt sich, aber begreift nicht das eigene Geschlecht. Ihr Frau-Sein verstört sie. Wer erwachsen ist, behauptet in der Regel, diese Verstörung überwunden zu haben. Jane Campions Film stellt diese Behauptung in Frage. Einfach, indem er uns mit Szenen konfrontiert, die wir selbst erlebt, aber niemals in unsere eigene Biographie integriert haben. Die wir uns nicht erklären können.

Später, im dritten Teil des Films, der von Frames Europareise erzählt, wird sich die Schriftstellerin in einen jungen Dichter verlieben, wird ihn küssen, mit ihm schlafen. Die Bilder der spanischen Romanze gehören (zusammen mit denen von der Dichterin bei der Arbeit) zu den schwächsten des Films. Vielleicht liegt das daran, daß wir solche Szenen aus dem Kino schon kennen. Wenn Jane Campion das Besondere zeigt, wird sie konventionell. Aus dem Rahmen fällt bei ihr das „Normale“, also das, woran man sich nicht erinnert: der Seitenblick, die Selbstberührung.

Diese Filmbilder von Pubertät und von Weiblichkeit sind unverwechselbar, die Bilder einer Frau. Nicht daß Campion eine Feministin wäre oder sich einer weiblichen Ästhetik verschrieben hätte. Sie zeigt bloß etwas, was Männer nicht kennen. Zwar sind einem Mann diese Momente der Selbstvergewisserung und der Verstörung sicherlich nicht fremd. Aber sie kennen sie nur im Hinblick auf ihr eigenes Geschlecht, und das sind andere Szenen.

Janet Frame als junge Frau wird von Kerry Fox dargestellt. Sie ist keine gute Schauspielerin, unsicher, mit wenig Ausstrahlung, oft sieht man, daß sie spielt. Sie schlüpft in ihre Rolle wie in ein schlecht sitzendes Kleid. Die Regisseurin, denkt man, hätte nachhelfen müssen. „Es geht darum“, sagt Jane Campion, „daß man im Leben begreifen muß, daß niemand einem hilft.“ Vielleicht war Kerry Fox die Beste dafür.

Jane Campion: An Angel at my Table ; basierend auf den Autobiographien von Janet Frame; mit Kerry Fox, Alexia Keogh, Karen Fergusson, Neuseeland 1990, 158 Min.

Ein Interview mit Jane Campion siehe nächste Seite