Zwischen Pflicht und Profilneurose

Geht es nach den Regeln, muß ein Fußball-Schiedsrichter redlicher sein der Papst: Charakterlich einwandfrei, souverän aber unauffällig, geachtet aber ungeliebt, spielernah und doch distanziert  ■ Von Wenzel Müller

Sind es Wagemutige oder Wahnsinnige? Ist es die große Liebe zum Fußballsport oder einfach ein ausgeprägtes Pflichtbewußtsein, das Sie umtreibt? Ist bei Ihnen, irgendwo im Unterbewußtsein, eine Art perverse Lust aufs Ausgepfiffenwerden virulent oder, ganz im Gegenteil, ein Hang zum Dominanzverhalten?

Doch was auch immer der Psychologe sagen mag, viele sind dem Aufruf des Wiener Schiedsrichterverbandes zu einem Lehrgang an zwei Wochenenden gefolgt. Da drücken die 20- bis 35jährigen Newcomer die Schulbank, das Regelbuch des Fußball-Bundes vor sich. An der Tafel dozieren langjährige Schiedsrichter unter Leitung des Routiniers Helmut Kompass. Seit mehr als hundert Jahren sind die Fußballregeln weitgehend stabil und international gültig. Sie sind, so meint der Wiener Schiedsrichterverband, mit ein „Garant für die weltweite Popularität des Fußballsports“.

Der Saal ist voll, so viele Aspiranten sind gekommen. Dabei sind die Aussichten, die ihr künftiges Hobby mit sich bringt, nicht gerade verlockend. Sie werden damit zu leben haben, daß sie niemand im Stadion liebt. Höchstens achtet. Sie sind die Buhmänner der Fußballnation. So unerläßlich sie sind, ihr Ruf ist schlecht. Lieblingsbeschimpfung: „Schwarze Sau“. Im Gegensatz zu den Spielern müssen sie sich mit einem bescheidenen Entgelt zufriedengeben, das anfangs, in den unteren Klassen, gerade für das Bier nach dem Match reicht. Später, wenn sie den Sprung in die Bundesliga schaffen sollten, beträgt es 1.500 Schilling, etwa 200 Mark.

Grundsätzlich kann jeder Schiri werden, doch die wenigsten schaffen den Sprung nach oben. Denn mit genauer Regelkenntnis ist es nicht getan. Wer auch ganz firm im „passiven Abseits“ ist, mag vielleicht nie vom Nachwuchs wegkommen. Wenn es nämlich an entscheidenden Charaktereigenschaften fehlt. Zuallererst „Persönlichkeit“. Im Regelbuch lesen wir: „Sie ist die wesentlichste Eigenschaft eines Schiedsrichters. Schwer zu definieren, aber leicht zu erkennen: Sein Auftreten, seine Lebensweise müssen so sein, daß er über den Geschehnissen steht, ohne überheblich oder unnahbar zu sein. Er muß ein Mensch unter Sportkameraden bleiben.“

Erforderlich ist auch ein ordentliches Äußeres: „Wer sich im Sport Geltung verschaffen will, muß schon durch sein Äußeres wirken. Ein sportlich durchtrainierter Körper sowie ein raumgreifender Laufstil werden immer sportlich aussehen. Eine nette Sportkleidung und eine lautstarke Schiedsrichterpfeife verleihen bereits Persönlichkeitsmerkmale.“ So ließe sich weiter nett zitieren. Andere unabdingbare Vorausetzungen: „Menschenkenntnis“, „Einsatzbereitschaft“, „Mut“...

Die Arbeit des Schiris beginnt vor dem Anpfiff. Wie ein Trainer muß er sich vorher mit der Spielanlage der beiden Mannschaften und den Eigenarten ihrer Akteure auseinandersetzen. Operieren sie mit Abseitsfalle, spielen sie auf Konter oder favorisieren sie den „kick and rush“? Haben sie einen besonders berüchtigten Haudegen? Zudem soll der Schiri möglichst eine Stunde vor Spielbeginn die Beschaffenheit des Feldes inspizieren und die Spielerpässe einsammeln. Stellt die Heimmannschaft genügend Ordner? Sind die Markierungen ordentlich gezogen?

Nicht weniger als 25 Punkte listet der ÖFB auf, was der Schiri vorher alles beachten sollte. „Essen Sie vorher vernünftig! Keinen Schweinsbraten mit Knödeln! Lieber Tee mit etwas Brot. Vorher nicht mit den Mannschaften reden! Das kann sofort Mißtrauen beim Gegner schüren.“ Der Schiedsrichter soll sich distanziert verhalten.

Je unauffälliger der Schiri seine Arbeit macht, desto besser ist er. Er soll der Chef auf dem Platz sein, aber nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Von dieser Leitlinie wich gerade Helmut Kohl, 48 Jahre, gelernter Fleischhauer aus Salzburg und Österreichs bekanntester Pfeifer, während der WM in Italien ab. Mit pathetischer Feldherrengeste holte er die zu ermahnenden Spieler zu sich her und gab erst Ruhe, wenn sie brav Hündchen machten. Pfeift ein Schiedsrichter ein Spiel ordentlich, nimmt niemand von ihm Notiz. Das ist sein Los. Kein Hobby für jemanden, der gerne im Rampenlicht steht. Denn in die Schlagzeilen der Zeitungen kommt er erst mit eklatanten Fehlentscheidungen.

Der Schiri ist Sportler. Während der 90 Minuten legt er etwa zwölf Kilometer zurück, möglichst immer in Diagonalrichtung zum Feld, um den besten Blickkontakt mit seinen Linienrichtern zu haben. Er soll schnell laufen, um stets auf Ballhöhe zu sein. Aber auch nicht zu schnell, da er sonst den Überblick verliert. Ein Hobby als dauernde Gratwanderung: Der Schiedsrichter soll seine Entscheidungen bestimmt treffen, aber nicht mit übertrieben theatralischer Geste. Er soll nett und ordentlich gekleidet sein, aber nicht eitel wirken. Er soll Autorität ausstrahlen, aber nicht herrisch amtieren.

Die Ordner der Heimmannschaft sind für das Wohl und Wehe des Schiris verantwortlich. Sie müssen garantieren, daß er wieder heil aus dem Stadion rauskommt. Wenn sie im Angesicht rasender Zuschauermassen der Ansicht sind, daß ihre Kräfte nicht ausreichen, müssen sie die Polizei zur Verstärkung holen. Ist der Schiri zu Hause angekommen, geht seine Arbeit weiter. Er hat den Spielbericht zu schreiben und, falls er einen Spieler ausgeschlossen hat, in der nächsten Woche seine Aussage vor dem Strafsenat machen. Am Wochenende geht dann alles wieder von vorne los. Und bekanntlich ist das nächste Spiel immer das schwerste.