Verbrechen gegen die Menschlichkeit

■ Zu den Verhaftungen von Willi Stoph und Heinz Keßler

Verbrechen gegen die Menschlichkeit Zu den Verhaftungen von Willi Stoph und Heinz Keßler

Die Festnahmen von Willi Stoph und Heinz Keßler werfen wieder einmal das Problem auf, ob Verbrechen von Regierungen nach Strafrechtsgesichtspunkten justitiabel sind. Der Versuch, die kleinmünzerischen Taten zum Ansatzpunkt zu machen, darf nach der Haftentlassung von Harry Tisch getrost als gescheitert betrachtet werden. Zumal das Mißverhältnis zwischen diesen Vorwürfen und dem, was einige westliche Gewerkschafter sich im Umfeld von coop und Neuer Heimat geleistet haben, ohne deswegen je belangt worden zu sein, nur allzu offensichtlich ist.

Auch der Versuch, den Schießbefehl — nach damaligem DDR-Strafrecht wohlgemerkt! — in einen Straftatbestand umzumünzen, dürfte kaum zum Erfolg führen. Denn der kann durchaus als formal und rechtstechnisch korrekte — wenngleich menschlich perverse — logische Folge aus der Tatsache abgeleitet werden, daß „illegaler Grenzübertritt“ in der DDR ein Verbrechen war. Es gibt noch einen Grund, nicht allzusehr auf dieser Linie zu beharren. Sie könnte nämlich die perverse Konsequenz haben, daß man Stoph und andere freisprechen muß, während der einzelne Grenzsoldat, der geschossen hat, für seine mangelnde Zivilcourage, die Ausführung eines obszönen und unmenschlichen Befehls zu verweigern, wegen Totschlags verurteilt wird. Und es darf ja wohl nicht sein, daß sich noch einmal die Farce der Prozesse gegen die Naziverbrecher wiederholt, für die weitgehend — ausgenommen die Prozesse unter der Justizhoheit der Alliierten — galt: die Großen läßt man laufen, und den Kleinen gibt man kleine Strafen.

Will man sich nicht mit dem teils pragmatischen, teils zynischen Vorschlag abfinden — laßt sie doch laufen, lebenslänglich Rußland ist eh die schlimmste Strafe, dann gibt es für die bundesdeutsche Justiz nur einen Weg: sie muß das Problem der Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch einmal diskutieren, auch wenn das in allen Naziverbrecherprozessen aus rechts-positivistischen Gründen immer verworfen wurde. Das ist zweifellos eine schwierige Debatte, beinhaltet sie doch die Heranziehung eines außerjustitiellen Gesichtspunkts in die Formalisierung eines Strafverfahrens. Aber immerhin verfuhr man bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen genauso. Und wir sollten es schon klar sagen, wenn wir heute meinen, jene Prozesse von damals seien von zweifelhafter rechtsstaatlicher Qualität. Es wäre eine Selbstklärung.

Sollte die Justiz aber noch nicht einmal zu dieser Selbstreflexion bereit sein, dann würde die Festnahme von Stoph und anderen nichts weiter als ein Bauernopfer vor dem zwar verständlichen, aber in keiner Weise zu unterstützenden Volkszorn in der ehemaligen DDR sein — und zugleich eine schlimme Funktionalisierung der Justiz. Ulrich Hausmann