Mit „Privat-Asyl“ gegen Abschiebung

Die Schweizer „Aktion Abgewiesene Asylbewerber“ versteckt Flüchtlinge, um sie vor der Ausweisung zu schützen/ Einer Züricherin, die einem 16jährigen türkischen Kurden zwei Monate lang Zuflucht bot, droht nun eine Geld- oder Haftstrafe  ■ Von Hans-Walther Neunzig

Basel (taz) — Ali hat Angst. Abgeschlossen von der Außenwelt verbringt er Stunden und Tage in der kleinen anonymen Hochhauswohnung in Zürich. Ali malt Bilder seiner Angst: Ein Mann mit verbundenen Augen wartet auf den Strick. „Idam“ — Hinrichtung hat er mit dicken Buchstaben neben die Zeichnung geschrieben. Ali ist 16 Jahre alt, er ist türkischer Kurde. Und er lebt illegal in der Schweiz, wie rund 10.000 andere abgewiesene Flüchtlinge. Seine Frist zur Ausreise ist schon seit dem 28. Februar abgelaufen. Ali weiß nicht wohin: In seine Heimat, ein kleines Dorf im Grenzgebiet zu Syrien, kann er nicht zurückkehren. Dort wird ein Großteil seiner Familie wegen ihrer Mitgliedschaft in der linksmilitanten Organisation „Halkin Birgli“ von der türkischen Polizei steckbrieflich gesucht.

Vrene Passauer hat keine Angst mehr — sie ist nur noch zornig. Zwei Monate lang haben die 41jährige Züricherin, die nach einer Querschnittslähmung an den Rollstuhl gefesselt ist, und ihre beiden Kinder den jungen Kurden in ihrer Wohnung versteckt. Täglich hatte sie gehofft, daß das Flüchtlingselend im irakisch-iranischen Grenzgebiet die Schweizer Behörden erweichen würde und sie einen Abschiebestopp für kurdische Asylsuchende verhängen würden. Nachdem die Polizei vor kurzem vier untergetauchte kurdische Familien in Handschellen abführen ließ, eine Woche in einer unterirdischen Zivilschutzanlage gefangen hielt und schließlich in einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“ in die Türkei abschob, wußte Vrene Passauer, daß die Hoffnung umsonst war.

Sie war des Versteckspielens müde und mit ihrer kleinen Rente am Ende ihrer finanziellen Möglichkeiten angelangt. Stellvertretend für viele SchweizerInnen, die zur Zeit rund 50 Flüchtlingsfamilien und etwa 500 Einzelpersonen vor dem Behördenzugriff verstecken, trat sie die Flucht nach vorne, in die Öffentlichkeit, an. „Es ist verlogen“, sagte sie, „auf der einen Seite Geld für die kurdischen Flüchtlinge im Ausland zu sammeln und die Kurden im eigenen Land zwangsausweisen zu lassen.“ Nun drohen ihr sechs Monate Haft oder bis zu 10.000 Franken Geldstrafe. „Ich werde nicht bezahlen“, verspricht sie trotzig, „ich bin gespannt, ob mein Rollstuhl sie davon abhalten wird, mich festzunehmen.“

Gegründet wurde die „Aktion Abgewiesene Asylbewerber“ (AAA) 1984 von dem Berner Arzt Peter Zuber und seiner Frau Heidi, um gegen die rigide Asylpolitik der Schweizer Regierung zu kämpfen. Mittlerweile ist die AAA eine schlagkräftige, gut organisierte Bewegung geworden, die heute von rund 6.000 AktivistInnen unterstützt wird. Im Schnitt sind nach Schilderungen von Peter Zuber ständig bis zu 200 „Privat-Asylplätze“, wie er das nennt, durchschnittlich drei Monate lang belegt. Das Gros der UnterstützerInnen der AAA, zu deren prominentesten Sympathisanten Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt zählten, ebenso wie die Schriftstellerin Mariella Mehr, Otto F. Walter und der Tessiner Stararchitekt Mario Botta, lebt in der Schweiz. Doch die AAA hat in beinahe allen Ländern der Erde eigene Kontaktleute.

Ins Visier von Staatsanwälten und Polizei kam die Organisation respektive das Ehepaar Zuber auch, weil sie vor illegalen Praktiken nicht zurückschrecken. Über Spezialisten im Ausland „besorgt“ die AAA jährlich rund 200 Flüchtlingen, denen sie mit Interventionen bei Behörden nicht mehr weiterhelfen kann, falsche Identitätspapiere, um ihnen die Flucht ins Ausland zu ermöglichen. Finanziert wird die Organisation, die vielen Flüchtlingen, die in ihre Heimatländer zurückkehren, auch materielle Hilfe leistet, ausschließlich durch die Spenden ihrer UnterstützerInnen. Dabei kommen immerhin sechsstellige Summen im Jahr zusammen, deutet Zuber an.

Unterstützt wird die AAA vor allem von vielen älteren SchweizerInnen, in der Mehrzahl Frauen, die bereits während des Zweiten Weltkrieges Flüchtlingen halfen, die vor dem Naziregime geflohen waren. Daneben kommen die UnterstützerInnen vor allem aus Kreisen der engagierten Linken und aus christlichen Gruppen. „Aber es gibt auch Fabrikdirektoren, Universitätsprofessoren und Pfarrer, die uns helfen“, erklärt Peter Zuber.

Seine Frau Heidi und er selbst sind auch bereit, für die rechtlichen Folgen ihres Engagements einzustehen. Bereits im Herbst 1987, nachdem sie mit einer spektakulären Aktion die Abschiebung einer Familie aus Zaire zu verhindern versuchten, wurden sie zu zwei bzw. einem Monat Haft verurteilt. Nun läuft nach Anzeigen aus Kreisen der rechtsgerichteten „Schweizer Demokraten“ erneut ein Ermittlungsverfahren gegen sie, nachdem sie sich öffentlich dazu bekannten, am Untertauchen von vier kurdischen Familien aus dem „Friedensdorf“ Flüeli-Ranft beteiligt gewesen zu sein.

Am Fernsehschirm verfolgt Ali, wie seine Landsleute von der Polizei eskortiert auf dem Flughafen Zürich- Kloten in eine Maschine verfrachtet und ausgeflogen werden. „Wir schämen uns, SchweizerInnen zu sein“, steht auf einem der Transparente der Menschenmenge, die den Flüchtlingen das Geleit gab. Ali weiß nicht, wann er in einer Maschine in Richtung Türkei sitzen wird. In seinem neuen Versteck malt er weiter Bilder: ein Mann in einem dunklen Raum — durch ein vergittertes Fenster fallen spärlich Lichtstrahlen, die Tür hat keine Klinke. Sie bleibt verschlossen wie seine Türe in die Freiheit.