Die Dynastie als kollektiver Traum

■ Die indische Öffentlichkeit, aber auch der Nehru-Gandhi-Clan selbst haben zur Mythologisierung der Herrscherfamilie beigetragen

Rajiv Gandhi wurde vierzig Minuten nachdem die Nachricht von der Ermordung seiner Mutter über die indischen Rundfunk- und Fernsehanstalten verbreitet worden war als neuer Ministerpräsident Indiens vereidigt; an jenem Tag, als nichts in der Welt sicher zu sein schien, waren sich alle wenigstens in einem einig — daß er, Rajiv, die einzig mögliche Wahl gewesen sei. Immer wieder wurde er als der „rechtmäßige Erbe“ bezeichnet. (...) Das klingt eher nach der Sprache von Höflingen als nach derjenigen politischer Kommentatoren. Aber damit einher ging noch eine andere Art von Rhetorik: Die längst hohl gewordene Beschreibung Indiens als „größte Demokratie der Welt“ wurde in den Stunden und Tagen nach Indira Gandhis Ermordung noch weiter ausgehöhlt. Und niemand schien die grelle Dissonanz zwischen den beiden Formen des Diskurses wahrzunehmen. Diese nationale Taubheit war ein Indiz dafür, welche Machtfülle die Nachkommen Motilal Nehrus erlangt hatten. Am 31. Oktober 1984 war Rajiv Gandhi in der Tat die einzig mögliche Wahl, nachdem ihm die Drahtzieher seiner Partei und die wenigen Männer, die seine Rivalen im Wettstreit um den Posten hätten sein können, das Plazet gegeben hatten. (...)

In Wirklichkeit war das Geschehen alles andere als natürlich: Ein vierzigjähriger Mann, ein politischer Neuling, den man zuvor als Stimmenverlierer, als schwach, ja als politisch desinteressiert angesehen hatte, war innerhalb einiger weniger chaotischer Augenblicke zur automatischen Wahl für den wichtigsten Posten im Lande geworden. War das derselbe Rajiv Gandhi, der voller Nervosität überlegt hatte, ob er bei den bevorstehenden Parlamentswahlen nicht lieber in mehr als einem Wahlkreis kandidieren sollte, um dem Verlust von Amethi, dem alten Wahlkreis seines tödlich verunglückten Bruders, an seine mit der Familie verfeindete Schwägerin, Sanjays Witwe Maneka, vorzubeugen? Welcher Zauber war am Werke gewesen, um diesen auf den Boden zurückgeholten Flugkapitän in den potentiellen Erlöser der Nation zu verwandeln?

Mir scheint, daß die Antworten auf solche Fragen den Bereich von Politik und Geschichte verlassen und in die Sphäre des Mythischen vorstoßen müssen. Der Nehru-Gandhi- Clan ist mittlerweile gründlich mythologisiert worden. (...) Die unendliche Geschichte der Familie Nehru, der Wechselfälle im Leben Jawaharlals, Indiras, Sanjays und Rajivs, ist für Hunderte von Millionen von uns eine sich nun schon über fast vier Jahrzehnte erstreckende Obsession. (...) In dieser Version — die Dynastie als kollektiver Traum — stellt Jawaharlal Nehru den kostbarsten Teil des Traumes dar, seine trunkenste Phase. Indira Gandhi, die — oftmals skrupellose — Pragmatikerin, wird zu einer Gestalt der Ernüchterung, und der brutale Sanjay bedeutet eine weitere Auflösung der Traumwelt. Es ist bislang schwer zu sagen, wofür Rajiv Gandhi in dieser Deutung steht. Vielleicht markiert er den Augenblick vor dem Erwachen. In den Augenblicken, da ein Traum vergeht, beginnen die Geräusche der wirklichen Welt in das Bewußtsein des Träumers einzudringen; und ganz gewiß sind im heutigen Indien die Geräusche der Wirklichkeit aufdringlich und schrill. Vielleicht ist Rajiv nicht Sandmann genug, um die Menschen im Schlaf zu halten. (...)

Die öffentliche Spekulation in Indien hat in diesen familiären Beziehungen geschwelgt; sie hat sich des vorhandenen Rohmaterials bedient und alle möglichen Vorstellungen daraus zusammengebraut. Aber es gab auch genügend Skandale aus dem „wirklichen Leben“, um die Spekulationsküchen in Betrieb zu halten — schließlich benötigen Mythen, ebenso wie Schmierenkomödien, die das Mythische in seiner heruntergekommensten Form enthalten, ein beträchtliches Maß an Würze. Da haben wir die öffentlichen Querelen zwischen Jawaharlal Nehru und seinem Schwiegersohn Feroze Gandhi gehabt; wir haben Indira nach der Verkündung des Ausnahmezustandes in Schimpf und Schande gesehen, wir waren Zeuge des Todes von Sanjay Gandhi, der sein Leben — einige sagen, durch einen Akt göttlicher Vergeltung — bei einem Flugzeugabsturz verlor. Wir haben auch den außerordentlich giftigen Streit zwischen Indira und Sanjays Witwe, Maneka Gandhi, erlebt. Schon beginnt sich die Spekulation auf die nächste Generation zu richten. Wer wird der nächste Kandidat der Dynastie sein? Sanjays und Manekas Sohn Feroze Varun oder Rajivs und Sonias Rahul? Was halten die beiden kleinen Prinzen voneinander? Und so weiter. Oft schien die Geschichte der Nehrus und Gandhis ungleich fesselnderes Material zu liefern als alles, was Kino und Fernsehen zu bieten haben (...). Vergessen wir jedoch nicht, daß die indische Öffentlichkeit keineswegs die einzige mythologisierende Kraft am Werke war. Die Familie selbst hat mit großer Zielstrebigkeit ihre eigene Mythologisierung betrieben. Allerdings müssen wir hier Jawaharlal Nehru ausnehmen, der einmal, wie Tariq Ali uns in Erinnerung ruft, vor einer großen Versammlung von Indern gesagt hat, daß sie, das Volk, und nicht Mutter Erde oder irgend etwas sonst Indien seien. Welch ein Gegensatz zu dem Wahlkampfslogan seiner Tochter: „Indien ist Indira und Indira ist Indien“.

Auch der Westen kochte mit in der Mythosküche

Im Gegensatz zu ihrem Vater litt Frau Gandhi ganz offenkundig an den anmaßenden l'état c'est moi- Wahnvorstellungen eines Ludwig XIV. Ihre Ausnutzung des Mutterkults — der hinduistischen Überlieferung und Symbolik der Mutter- Göttin — und der Tatsache, daß das dynamische Element im Hindu-Pantheon als weiblich dargestellt wird, war berechnend und klug, aber man hat das Gefühl, daß auch dies ihren Vater beunruhigt hätte, der von Mahatma Gandhis Art, sich den Hindu- Mystizismus zunutze zu machen, nie angetan war. Jawaharlal hatte die Sprengkraft, die jedweder Erhebung der einen indischen Ethik über die anderen innewohnt, erkannt; Indira, weit weniger zimperlich, wurde am Ende zu sehr eine Hindu- und zu wenig eine nationale Führerin. Und weil es ihrem Mythos dienlich war, beutete sie den Zufall ihrer Verheiratung mit einem ganz anderen Gandhi nach Kräften aus: Dieser Nachname und die sich mit ihm einstellenden Konfusionen waren nicht ohne Nutzen. (...) Auch Sanjay Gandhi inszenierte um sich einen Persönlichkeitskult; und nun hat Rajiv, getreu seinem Bild als der Unprätentiöseste, der Prosaischste des Clans, eine neue Ikone in seinem Quartier aufgestellt: einen Computer. Schon wird das Bild vom „Computer-Kid“ Rajiv, dem Schrittmacher der technologischen Revolution, auf Hochglanz gebracht. Jawaharlal Nehru hat einmal gesagt, daß Indien soeben in das Zeitalter des Fahrrades eingetreten sei; Rajiv — oder, genauer gesagt, der Mythos des Rajiv — hat da eindeutig andere Ideen.

Das dritte Element in der Mythos- Küche ist der Westen gewesen. In der Berichterstattung der westlichen Medien über Indien spielte die Familie eine so zentrale Rolle, daß ich bezweifle, ob viele Europäer oder Amerikaner einen einzigen indischen Politiker nennen könnten, der weder Nehru noch Gandhi heißt. Diese Art der Berichterstattung hat den Eindruck erweckt, als habe es keine anderen möglichen Führer gegeben; das aber trifft auf Jawaharlals ganze Amtszeit und auf den größten Teil derjenigen Indiras einfach nicht zu. Selbst heute, wo die politische Bühne Indiens ein wenig verwaist aussieht, gibt es Anzeichen dafür, daß eine neue Generation von Politikern heranwächst; es gibt eine Reihe politischer Figuren — Farooq Abdullah, Ramakrishna Hegde, sogar Chandrashekhar —, mit denen Rajiv und seine Leute in naher Zukunft zu rechnen haben werden. Doch in der westlichen Presse lesen wir kaum je etwas über sie.

Auch die politischen Führer des Westens haben ihre Rolle gespielt. Das war besonders auffällig in der Zeit seit 1979, als der Zerfall der Janata-Partei Indira Gandhi an die Macht zurückkehren ließ. Ihr Hauptziel in den folgenden Jahren bestand darin, ihre persönliche Rehabilitierung zu erreichen, die Erinnerung an den Ausnahmezustand und seine Greuel zu tilgen, gereinigt zu werden von seinen Makeln, den Ablaß der Geschichte zu erwirken. Mit Hilfe zahlreicher, vor allem auch westlicher Regierungschefs und Präsidenten war dieses Ziel zur Zeit ihres Todes so gut wie erreicht. Sie erzählte der Welt, daß die Horrorgeschichten über den Notstand samt und sonders erdichtet seien; und die Welt ließ es zu, daß man ihr diese Lüge abnahm. Es war ein Triumph des schönen Scheins über das häßliche Sein. Es ist schwer, sich der Schlußfolgerung zu entziehen, daß der Westen — insbesondere das westliche Kapital — den großen Nutzen einer rehabilitierten Mrs. Gandhi erkannt hatte und sich deshalb ans Werk machte, sie in gewünschter Reinheit zu erfinden. (...) Salman Rushdie

Aus dem Vorwort zu: Tariq Ali, „Die Nehrus und die Gandhis“, Ullstein Verlag, Frankfurt 1985