Kreuzberg rückt in Ku'damm-Nähe

■ Kreuzberger Bürgerforum: Mietensteigerung alarmiert Kreuzberger Einzelhandel und soziale Einrichtungen/ Ladenmieten haben sich im letzten Jahr verdoppelt bis verdreifacht/ Wie ist das stille Sterben des Kleingewerbes aufzuhalten?

Kreuzberg. Mieten für Gewerbeflächen in Kreuzberg haben in der jüngsten Zeit ein neues Rekordniveau erreicht: Einzelne Objekte sind jetzt so teuer, als lägen sie in den Seitenstraßen des Kurfüstendamms. Das berichteten Einzelhändler auf dem 23. Kreuzberger Bürgerforum zur Situation des Kleingewerbes im Bezirk.

Ein Beispiel: 6.800 DM plus Umsatzsteuer soll ein Fotogeschäft in der Zossener Straße von September an bar bezahlen — rund 100 Mark pro Quadratmeter, fast viermal soviel wie bisher. Die erhöhten Kosten würden den Besitzer nach zehn Jahren im Kiez zum Aufgeben zwingen. Das Blumengeschäft von nebenan mußte bereits schließen. Der Eigentümer scheint großflächigere Pläne zu verfolgen. Makler boten dem Fotohändler inzwischen deutlich billigeren Gewerberaum, aber weit weg von seiner bisherigen Kundschaft, zum Beispiel in der Lietzenburger Straße. Ist Kreuzberg jetzt auf dem Weg zu einer »Ia-Lage« für Mietwucher?

Das ist zunächst die Spitze des Eisbergs, aber auch flächendeckend — so das Bürgerforum — steigen die Gewerbemieten. Seit einem Jahr haben sich die Kosten für die kleinen Läden im Schnitt verdoppelt, vereinzelt sogar verdreifacht. Immer mehr Kinder- und Schülerläden erhalten nun die Kündigung. Sie beklagen Mietpreiserhöhungen von 100 bis 450 Prozent seit dem Wegfall der Mauer. Verstärkt »Alarm schlagen«, darin sehen die Betroffenen ihr vorrangiges Ziel.

Die anwesenden mittelständischen Organisationen von CDU und SPD setzen vor allem auf eine Bundesratsinitiative durch den Berliner Senat. Nach französischem Vorbild sollen die Verträge auf eine Laufzeit von rund neun Jahren festgeschrieben werden. Die Mieterhöhungen werden an den Baukostenindex gekoppelt. In der bisherigen Situation ist der Gewerbetreibende absolut rechtlos in der Mietenfrage, so Ernst Wüst (SPD). Über die Gewerbemiete sei ein »Vernichtungswettbewerb« in Gang gekommen, der einer völlig freien Marktwirtschaft entspreche, nicht aber einer sozialen. Wüsts Ansicht nach könnte die geplante Gesetzesinitiative noch dieses Jahr in den Bundestag gehievt werden.

Die Berliner SPD hat jedenfalls ihre Zustimmung bereits signalisiert, der Bundesvorsitzende Hans- Jochen Vogel Hilfe versprochen. Solche eindeutigen Zeichen stehen bei der CDU noch aus [was de facto auch kein unterschied ist, sezza]. Die Berliner Partei wird jedoch auch in den kommenden Tagen über das Thema beraten.

»Das Papier geht nicht durch«, schätzt Rainer Bohne von der AL. Die Problematik sei bisher nicht im Bewußtsein der Öffentlichkeit und auch nicht bei den Politikern verankert. In den großen Parteien herrsche eher eine »Metropoleneuphorie« vor, die bereit sei, das Kreuzberg in seiner jetzigen Form zu opfern.

Die Bundesratsinitiative findet Bohne zwar begrüßenswert, geht ihm dabei aber nicht weit genug: Es fehle eine Verordnung, die Gewerbemieten strikter zu begrenzen, und ein Mietspiegel müßte erstellt werden [damit wuchermieten legalisiert werden, wie im wohnungsbau? sezza]. Der Verdrängungswettbewerb im Kiez bedrohe übrigens schon lange nicht mehr nur die selbständigen Mittelständler, sondern auch Künstler, soziale Einrichtungen, Kinderläden und Kindertagesstätten.

Während Kinderläden und alternative Betriebe sich zunehmend organisieren, fehlt dieser Schritt noch für andere Gewerbemieter. Zahlen über die bisher zwangsweise geschlossenen oder von Schließung bedrohten Läden liegen nicht vor. Für Kreuzberg 61 stellt der Stadtteilausschuß von nun an die Bergmann 30 als Info-Büro zur Verfügung.

Ob das jedoch das stille Sterben der kleinen Läden aufhalten wird, ist fraglich. Viele Unternehmer zeigen wenig Interesse, ihre Schwierigkeiten an die große Glocke zu hängen; sie fürchten um ihre Reputation, liquide zu sein. Und so lange sie noch mit dem Vermieter verhandeln, könnten sie mit zu großer Öffentlichkeit einen Vertrag ganz gefährden.

Aber nicht nur die Kleinen kann es treffen. Am Rande des Stadtteilausschusses verriet der SPD-Vertreter ein Bonmot: Auch der Berliner Mieterverein muß wohl mit einer Mieterhöhung rechnen, eine Kündigung habe die Mieterorganisation nämlich bereits erhalten. Knud Velten