„Es übertraf unsere schlimmsten Erwartungen“

Eine Untersuchungkommission der Harvard-Universität berichtet über die Folgen der Zerstörung der irakischen Infrastruktur während des Golfkrieges/ Überall Unterernährung und Seuchen/ Allein 170.000 Kinder unter fünf Jahren werden sterben  ■ Aus Washington Silvia Sanides

„Entgegen Behauptungen der irakischen Regierung und der westlichen Presse ist die medizinische Versorgung im Irak katastrophal und wird sich weiter verschlechtern.“ Dies ist das Ergebnis einer soeben veröffentlichten Studie von Ärzten und Rechtsanwälten der Harvard-Universität. Das Team bereiste in der ersten Mai-Woche alle Gebiete des Iraks und besuchte zahlreiche Krankenhäuser. „Die Situation, die wir vorfanden, übertraf unsere schlimmsten Erwartungen“, erklärte Studienleiterin Megan Passey am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Washington. Allein unter den Kindern bis zu fünf Jahren werden nach Schätzungen der Ärzte mindestens 170.000 im Laufe dieses Jahres an den Folgen des Krieges sterben — das wären fünf Prozent der Iraker dieser Altersgruppe. Ihre Zahl, so Passey, „könnte womöglich doppelt so hoch oder noch höher sein“. Die Kinder fallen einer Kombination von Infektionskrankheiten und Unterernährung zum Opfer.

Das Harvard-Team konnte frei im Irak umherreisen und die Bevölkerung und das Personal von Krankenhäusern befragen. Sie fanden hoffnungslos überfüllte Hospitäler vor, die unzureichend mit Medikamenten und Geräten ausgerüstet sind und ihre Patienten nicht einmal mit den nötigen Lebensmitteln versorgen können. Im manchen Gebieten sind bis zu fünfzig Prozent der Krankenhäuser geschlossen.

„Zwei bis drei Kinder liegen in jedem Bett“, so Passey, „und die Ärzte können sie nicht behandeln.“ Die Zahl der Typhus- und Cholerafälle liegt um das Zwei- bis Zehnfache höher als im Vorjahr. Wegen eines Mangels an „Chloramphenicol“, einem Antibiotikum zur Behandlung von Typhus, werden Kinder, die noch ansteckend sind, aus dem Krankenhaus entlassen. Unterernährte Kinder werden gar nicht erst aufgenommen, weil Babymilch und Lebensmittel in den Krankenhäusern zu knapp sind.

Zwei der Ärzte, die sudanesische Flüchtlinge zur Zeit der Hungersnot 1984/85 im Sudan betreut hatten, fanden die heutige Situation im Irak der damaligen vergleichbar, insbesondere „die Verbreitung der Cholera und das Ausmaß der Unterernährung“. Das Harvard-Team macht vor allem den Zusammenbruch der Stromversorgung für die katastrophalen Zustände im Irak verantwortlich. „Ohne Strom“, so der Bericht, „kann Trinkwasser nicht aufbereitet und Abwasser nicht entsorgt werden. Krankheiten, wie Cholera und Typhus, die über verseuchtes Wasser verbreitet werden, nehmen zu.“ Da die Kläranlagen nicht funktionieren, laufe ungeklärtes Abwasser in die Flüsse und auf die Straßen. Kinder, so die Ärzte, spielen in den verseuchten Pfützen, und Frauen schöpfen Trinkwasser aus den stinkenden Flüssen.

Achtzehn der zwanzig stromerzeugenden Kraftwerke wurden im Laufe des Krieges zerstört. Am Ende des Golfkrieges lag die Stromproduktion im Irak noch bei vier Prozent, heute bei zwanzig Prozent der Vorkriegskapazität. Viele Kraftwerke sind so stark beschädigt, daß sie ohne Ersatzteile nicht wieder aufgebaut werden können. Sanktionen verhindern die Einfuhr von Ersatzteilen ebenso wie die ausreichende Versorgung mit Medikamenten und Nahrungsmitteln. Vor dem Krieg baute der Irak dreißig Prozent seiner Nahrungsmittel selbst an, siebzig Prozent wurden importiert. Da die Bewässerungssysteme in der Landwirtschaft auf Pumpen und damit auf Strom angewiesen sind, werden für dieses Jahr nur geringe Ernteerträge erwartet. Das Team warnt davor, daß sich die Verknappung zu einer Hungersnot ausweiten könnte. Zwar gebe es auf den Märkten Lebensmittel, doch seien die Preise zehn- bis zwanzigmal höher als vor dem Krieg und für viele Menschen nicht mehr erschwinglich.

Das Harvard-Team fand in allen Teilen des Landes gleichermaßen verheerende Zustände vor. In den Städten des Nordens fiel besonders die Lebensmittelverknappung auf, während südliche Städte, speziell Basra, im Abwasser ertrinken. Die Ärzte vermuten, daß sich die Situation in den nächsten Wochen wegen der zunehmenden Hitze weiter verschlimmern wird. Außerdem gehen Mitglieder des Teams davon aus, daß sie das volle Ausmaß der jetzigen Katastrophe gar nicht gesehen haben, weil ihnen der Zugang zu einer großen Spezialklinik für Infektionskrankheiten in Bagdad verwehrt wurde. Womöglich hat die irakische Regierung zahlreiche Cholerakranke in dieses Krankenhaus verlegt, um zu verbergen, daß sie keine Kontrolle über die Krise hat.

Das Harvard-Team wird seinen Bericht der UNO und internationalen Hilfsorganisationen vorlegen.