SPD: „Nur tote Hosen mit viel Sitzfleisch“

Kurz vor dem Bundesparteitag am Wochenende steigt das Stimmungsbarometer in der SPD-Führungsriege/ SPDler setzen auf künftigen Vorsitzenden Engholm/ Nur die Jusos zweifeln an der angekündigten „Erneuerung der Partei“  ■ Aus Bonn Tina Stadlmayer

Wie schnell das gehen kann: Noch vor wenigen Monaten, nach der grandios versiebten Bundestagswahl, redeten alle in der SPD von der „großen Krise“. Und heute? Nach zwei gewonnenen Landtagswahlen in Hessen und Rheinland-Pfalz und einigen grandios gewonnenen Meinungsumfragen sind die meisten mit sich und ihrer Partei wieder zufrieden. Was die SozialdemokratInnen am meisten anturnt: „Er“ ist in der Hitliste der beliebtesten Politiker auf Platz 2 hochgeschnellt, knapp hinter Genscher zwar, aber weit vor Rita Süssmuth. Auf dem Parteitag kommende Woche in Bremen küren die GenossInnen Björn Engholm zu ihrem neuen Vorsitzenden.

Einer allerdings wirkt trotz der um sich greifenden Euphorie traurig und verbittert. Der amtierende Vorsitzende Hans-Jochen Vogel hätte sich einen würdigeren Abgang gewünscht. Nach der verlorenen Bundestagswahl hatte sein Favorit für die Nachfolge, Oskar Lafontaine, das Handtuch geworfen. Und: Vogel sei schuld gewesen, weil er ihn unter Druck gesetzt habe. Als „Ersatzvorsitzender“ wolle er auch nicht weitermachen, sagte da Vogel und kündigte seinerseits den Handtuchwurf an. Gemeinsam guckten die SPD- Oberen dann den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Enghom für das Amt aus. Heute sind viele SPDlerInnen froh, daß es so gekommen ist. Engholm sei viel belastbarer, vernünftiger und berechenbarer als Lafontaine, schwärmen sie und flechten ihm schon heute einen Kranz aus Vorschußlorbeeren.

Auf dem Parteitag wird Engholm erst mal zeigen müssen, was er drauf hat. In seiner Rede will er „sozialdemokratische Perspektiven“ für das neue Deutschland aufzeigen. Der Leitantrag des Parteivorstandes zu diesem Thema trägt jedoch eindeutig die moderierende Handschrift Hans- Jochen Vogels. Selbst die konservative 'FAZ‘ urteilte, er sei auf eine „für linke Sozialdemokraten geradezu provozierende Weise marktfromm“. Von „hoher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit“ als „Voraussetzung für die wirtschaftspolitische Herstellung der Einheit“ ist da die Rede. Von einer erforderlichen „konzertierten Aktion von Regierung und Opposition, von Arbeitgebern und Gewerkschaften“ und von der notwendigen „unternehmerischen Initiative“. Erst viel später, unter Punkt 10, taucht im Leitantrag das Stichwort „ökologischer Umbau“ auf und unter Punkt 16 das Stichwort „Arbeitsplätze“.

Björn Engholm wird aufpassen müssen, daß ihm der Ostberliner Wolfgang Thierse nicht die Show stiehlt. Thierse will über die katastrophale Lage in den neuen Bundesländern reden. Die vorgeblichen Patentrezepte des Leitantrages wird er sich nicht zu eigen machen. Auch zum Thema „konzertierte Aktion“ vertritt der Berliner Rauschebart eine andere Auffassung. Die von Vogel so gelobten Arbeitsgruppen der SPD mit den Regierungsparteien „zur Situation in den neuen Bundesländern“ hatte er als gescheitert bezeichnet: Die Regierung habe keinen ihrer Vorschläge ernsthaft geprüft.

Voraussichtlich wird die Diskussion über die wirtschaftliche Misere im Osten auf dem Parteitag jedoch von einer anderen Frage überlagert werden. Sie lautet: Soll die SPD einer Grundgesetzänderung zugunsten einer Beteiligung deutscher Soldaten an UNO-Einsätzen zustimmen? 154 Anträge liegen zu diesem Thema bereits vor. Der Parteivorstand hatte für „friedenssichernde Einsätze (Blauhelme-Mission)“ votiert, dabei allerdings offengelassen, ob er dafür eine Änderung des Grundgesetzes für erforderlich hält. Die Antragskommission will den Delegierten nun fünf unterschiedliche Versionen, von der Befürwortung militärischer Einsätze bis zur kategorischen Ablehnung einer Grundgesetzänderung, vorlegen. Der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt wird in seiner Rede Ideen für eine Neuordnung der UNO (demokratischere Strukturen, mehr Mitglieder im Sicherheitsrat) vorstellen und für eine Änderung des Grundgesetzes plädieren. Sein Hauptargument: Das wiedervereinte Deutschland darf sich künftig einer weltweiten, auch militärischen Verantwortung nicht entziehen. Die Gegenrede dazu wird Lafontaine halten. Er spricht sich gegen eine Änderung des Grundgesetzes aus, da diese sowieso nur mit der CDU zu haben sei. Die aber will, so seine Mahnung, nur das eine: die Beteiligung deutscher Soldaten auch an militärischen Einsätzen außerhalb des Nato-Gebiets. Lafontaine ist für eine „medizinische, ökologische, humanitäre Eingreiftruppe“ und sagt: „eine militärische brauchen wir nicht“.

SPD-Gretchenfrage: Wie hält er's mit der UNO?

Auch heute schon dürften Bundeswehrsoldaten bei nichtmilitärischen, friedenssichernden UNO-Aktionen mitmachen, eine Öffnung des Grundgesetzes sei also überflüssig.

Über die Position des künftigen Parteivorsitzenden Engholm darf noch gerätselt werden. Vor einigen Monaten hatte er sich zwar für eine Grundgesetzänderung zugunsten von Blauhelm-Einsätzen ausgesprochen, angeblich hat er sich inzwischen der Lafontaine-Position angenähert. Am liebsten wäre es im wohl, die Delegierten würden die Abstimmung über das strittige Thema vertagen. Die Verfechter einer Öffnung des Grundgesetzes wollen aber auf jeden Fall abstimmen. „Die Schlacht muß geschlagen werden“, hatte der außenpolitische Sprecher der Fraktion, Norbert Gansel, unfreiwillig zweideutig angekündigt. Heidi Wieczorek-Zeul — sie will das GG hier so belassen, wie es ist — mutmaßt: Die Delegierten werden auf einer Abstimmung bestehen, wenn sie schon nicht über die Frage „Bonn oder Berlin als Regierungssitz“ abstimmen dürfen.

Diesen weiteren strittigen Punkt hat die Antragskommission gemeinsam mit dem Vorstand von der Tagesordnung gewischt. Neben der Kür des neuen Vorsitzenden und des designierten Geschäftsführers Karlheinz Blessing steht auf dem Parteitag noch die Wahl von fünf neuen Vorstandsmitgliedern an. Egon Bahr, Erhard Eppler, Klaus von Dohnanyi, Hans Koschnick und Hermann Heinemann treten aus dem Vorstand aus. Die Partei-Oberen haben den Fraktionsgeschäftsführer Franz Müntefering, den brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe, den Engholm-Vertrauten und Europaabgeordneten Gerd Walter und die thüringische SPD-Vorsitzende Gisela Schröter vorgeschlagen. Allerdings wollen auch der Außenpolitiker Norbert Gansel, der Ex-Grüne Otto Schily, der Ostberliner Pfarrer Konrad Elmer und der Lafontaine-Vertraute Reinhard Klimmt in den Vorstand. Die Rangelei um die besten Plätze könnte also noch spannend werden.

Auf jeden Fall wird durch die Neuwahl das Durchschnittsalter im Vorstand gesenkt. Schon der neue Vorsitzende Björn Engholm und sein designierter Geschäftsführer Karlheinz Blessing sind mit 51 und 34 Jahren sehr viel jünger als ihre VorgängerInnen. Steht also ein Generationenwechsel an? Schafft es die SPD, das Image des trägen, langweiligen Tankers loszuwerden, und wird eine mutige, offene und spannende Partei? Jedoch: Es sieht nicht nach einer zügigen Erneuerung aus. Allzuschnell macht sich unter den SozialdemokratInnen nach den gewonnenen Landtagswahlen wieder Selbstzufriedenheit breit. In Rheinland-Pfalz hielt sich Rudolf Scharping an Engholms Rat und setzte auf „sozialliberale Vernunft“ statt auf den „ökologischen Umbau“ mit den Grünen. Ralf Ludwig, neuer Juso- Vorsitzender und im Gegensatz zu seiner linken Vorgängerin ein Realo, sagt: „Es reicht nicht, in Bremen ein paar Köpfe auszutauschen.“ Er hält den Leitantrag des Vorstandes „Deutschland in neuer Verfassung“ für ein „Armutszeugnis“. Von Modernisierung und Öffnung der SPD könne keine Rede sein. Das Thema Jugendpolitik werde voraussichtlich „aus Zeitgründen“ auf dem Parteitag nicht einmal behandelt. Auch „wie sich Engholm die Erneuerung der Partei vorstellt“, sei nach wie vor ein Geheimnis, sagt Ludwig: „Wie soll aus toten Hosen mit viel Sitzfleisch ein lebendiger Ortsverein werden?“ Unterstützung bekommt Ludwig vom Lafontaine-Vertrauten Reinhard Klimmt. Auch er moniert, für Leute unter Dreißig sei die SPD nach wie vor völlig unattraktiv.

Aus den Landesverbänden, nicht nur dem saarländischen, und den Ortsverbänden kam in den vergangenen Monaten geharnischte Kritik an der Politik der SPD-Spitze und der Bundestagsfraktion. Die Bonner hätten sich von der Kohl-Partei einspannen lassen, in den gemeinsamen Arbeitsgruppen mit der Union die Situation im Osten schöngeredet. Oskar Lafontaine, der selbst beim Einigungsvertrag mit der DDR mitgemauschelt hatte, kritisiert heute: Die SPD-Bundestagsfraktion habe die schlimmsten Fehler der Regierung, zum Beispiel die frühe Währungsunion, mitgetragen und sei deshalb heute mit ihrer Kritik am Kanzler unglaubwürdig. Der saarländische Ministerpräsident Lafontaine und sein niedersächsischer Kollege Gerhard Schröder trauen auch dem neuen Vorsitzenden Björn Engholm nicht ganz: Er sei einer großen Koalition mit der CDU nicht abgeneigt.

Auf dem Bremer Parteitag wird dies offiziell keine Rolle spielen. Zwar stellte der Ortsverein „Neckarbischofsheim-Helmhof-Untergimpern“ den Antrag: „Der Bundesparteitag fordert, daß die SPD keine Koalition mit einer der jetzigen Regierungsparteien eingeht.“ Die Antragskommission plädierte auf „Nichtbefassung“.