Nicht wie die Kuh vorm neuen Tor

Wirtschaftsförderung im gesamten deutsch-polnischen Grenzgebiet angestrebt/ Sowjets hinterließen das Eiland „besenrein“/ Bonn wird zehn Millionen DM für Straßenbau bereitstellen  ■ Von Katrin Bluhm

Kietz. Eine drei Quadratkilometer große Insel in der Oder, gerade erst von sowjetischen Pionieren geräumt, soll zum Tor zwischen Deutschland und Polen werden. Wenn es nach Albert Lüpfert, Landrat des Kreises Seelow in Brandenburg, geht, könnte der Grenzbereich in den nächsten Jahren zu einem blühenden Wirtschaftsstützpunkt werden. Lüpfert will mit den polnischen Kollegen im Odergebiet eine Freihandelszone gründen und auf der Insel Industrie ansiedeln. Landes- und Bundesregierung haben zur Überprüfung dieser Pläne eine Studie in Auftrag gegeben. Finanzminister Klaus-Dieter Kühbacher will gar das ganze Grenzgebiet von Szczecin bis Görlitz zur Freihandelszone machen.

Die 1.200-Seelen-Gemeinde Kietz an der deutsch-polnischen Grenze bekam vorige Woche ihre Oderinsel von den Sowjettruppen zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die alte Stadt und Festung Küstrin durch den Oderverlauf in ein polnisch und ein deutsch verwaltetes Gebiet aufgeteilt worden. Die zum deutschen Teil gehörende Insel wurde später zum Standort von rund 500 sowjetischen Pionieren.

Man habe ein freundschaftliches Verhältnis zu den Soldaten gehabt, betont der Kietzer Bürgermeister Waldemar Rosolowski. „Schreiben Sie nichts Schlechtes über die Russen! Besenrein haben wir Insel und Kasernengebäude zurückbekommen.“ Kietz will nun eine Partnerschaft mit der Stadt Kremantchuk aufbauen, in die die meisten der Soldaten zurückgekehrt sind. Der relativ gute Zustand des Geländes und der Gebäude auf der Insel und die allgemeine politische Lage lassen die Kommunalpolitiker hoffen, aus der leidigen Grenzsituation herauszukommen. „Schon zu DDR-Zeiten haben wir selten was abbekommen“, beschreibt der Bürgermeister die Situation am östlichen Rand Deutschlands.

Bürgermeister und Landrat sind sich mit ihren polnischen Kollegen einig: Als erstes muß der alte Grenzübergang geöffnet werden. „Der gut 50 Kilometer lange Umweg über Frankfurt/Oder ist ein Unding“, finden sie. „Etwas unerlaubt sind wir das letzte Mal mit der Draisine zu unseren Gesprächen in Polen über die Eisenbahnbrücke gefahren“, erzählt Rosolowski. In diesem Punkt kann der Leiter der Grenzschutztruppe Frankfurt/Oder, Ortwin Popp, die Bürgermeister beruhigen. Eine deutsch-polnische Expertengruppe erarbeitet ein Konzept zur Öffnung mehrerer Grenzübergänge. Voraussichtlich im Juni soll hier schon der „kleine Grenzverkehr“ ablaufen. Bis die Übergänge für den allgemeinen Durchgangsverkehr ausgebaut sein werden, könnten dort immerhin schon Anwohner die Grenze passieren, meint Popp.

Die zweite Idee der Bürgermeister ruft die Landes- und Bundesregierung auf den Plan. Weil die ganze grenzübergreifende Region dringend einen wirtschaftlichen Aufschwung braucht, wünschen sich die Bewohner des Grenzgebietes eine Freihandelszone. In diesem Gebiet sind Zoll- und Warenbeschränkungen aufgehoben. Die Zone könnte auf beiden Seiten Industrie- und Wirtschaftsbetriebe anziehen und viele Arbeitsplätze schaffen. Eine Glasfabrik möchte man auf der Insel ansiedeln, Zulieferer für Autoelektronik und ebenso ein Schlachthof schweben den Planern vor. Die Energieversorgung, speziell Gas, soll dann aus Polen kommen.

Mit diesem Konzept wandten sich Landrat und Bürgermeister an das brandenburgische Finanzministerium. Minister Kühbacher ist sehr interessiert. „Wir wollen ja kein neues Zonenrandgebiet“, betont er. Eine „Wohlstandszone“ mit gegenseitigem Warenaustausch sehe er gern an der Ostgrenze des Bundeslandes Brandenburg. Er habe die Studie zum Freihandelgebiet schon mit dem Berliner Wirtschaftssenator Elmar Pieroth abgestimmt. Nun gehe die Untersuchung auf Bundesebene weiter. „Entweder werden wir das Projekt erstmal mit den polnischen Kollegen auf regionaler Ebene in Poznan besprechen, oder Bundeskanzler Kohl wird es in Warschau zur Sprache bringen.“

Auf jeden Fall sei auch die Europäische Gemeinschaft in die Gespräche mit einzubeziehen, betont Kühbacher. Er will sich in Kürze mit EG- Vertretern in Potsdam treffen und dieses Thema vorantreiben. Dem Minister schwebt eine Freihandelszone von Szczecin im Norden bis Görlitz im Süden vor. „Die Öffnung nach Osten ist ein aktuelles Thema, dem sich die EG nicht verschließen kann.“

Parallel dazu werden Gutachten zur Verbesserung der Verkehrsanbindung erstellt. Die alte Reichsstraße Nummer eins, die früher bis nach Königsberg (heute Kalinigrad) reichte, soll auf Vordermann gebracht werden. Das Bundesverkehrsministerium hat hierfür vorerst zehn Millionen Mark zur Verfügung gestellt. Die Sicherheitsprüfung der Fußgänger- und Straßenbrücke nach Küstrin ist noch nicht abgeschlossen. Sollte sie nicht mehr zu sanieren sein, werden Behelfsbrücken aus Bundeswehrbeständen erst einmal Abhilfe schaffen.

Diese Zusage habe das Verkehrsministerium gemacht, sagt Gernot Schmidt, der persönliche Referent des Landrats. „Die Eisenbahnverbindung nach Polen ist jedenfalls intakt.“ Die Reichsbahn habe ihren Verkehr die ganzen Jahre ungehindert über diesen Weg abgewickelt.

Bei allen großen Plänen soll aber der Natur- und Umweltschutz in Kietz/Küstrin nicht zu kurz kommen. Energiesparsame Industrie soll, wenn alles klappt, angesiedelt werden. Auf dem Südteil der Oderinsel wird höchstens ein „sanfter Tourismus“ erlaubt sein. Auch die Sowjets hätten diesen Teil völlig sich selbst überlassen, berichtet Rosolowski. „Seltene Pflanzen haben hier überlebt, und die Brutkolonien vieler Vögel sollen auch weiter erhalten bleiben“, hebt Rosolowski hervor. Kuckuckrufe, Grillengezirpe und Froschquaken untermalt bestätigend seine Forderung. ap