Vorlauf: Jämmerliche Gefühlswelt

■ "Wenn Männer Liebe kaufen...", Sonntag, ARD, 23.10 Uhr

Etwas Statistik vorweg. 83 Prozent der Männer zwischen 18 und 65 Jahren waren in ihrem Leben schon einmal bei einer Prostituierten. Der routinierte Freier geht regelmäßig in den Puff, durchschnittlich ein Mal im Monat. Mit irgendwelchen statistischen Formeln ließe sich sicher die Wahrscheinlichkeit ausrechnen, wann man im Rotlichtbezirk seinem Nachbarn, dem Arbeitskollegen oder einem guten Freund über den Weg läuft. Auch Filmautorin Ricki Reichel traf bei ihren Recherchen für das Österreichische Fernsehen im Milieu einen alten Bekannten. Zu ihrem Pech erkannte sie im Bordell den Redakteur, dem sie das Thema Wenn Männer Liebe kaufen angeboten hatte.

So wenig überraschend nach dieser peinlichen Begegnung dann das Aus für die Sendung kam, so wenig verwunderlich war es auch, daß kaum ein Freier bereit war, sich über die heimlichen Höhepunkte der gekauften Liebe auszulassen, als Ricki Reichel für den WDR erneut die Bordells durchstreifte. Daß es der Autorin gelungen ist, doch einige Männer zum Reden zu bringen, die sich zur ihren Besuchen bei einer Prostituierten bekennen, ohne vor der Kamera das Gesicht zu verbergen, öffnet jedoch keine Abgründe perverser Verhaltensweisen oder absonderlicher Sexualpraktiken. Es ist eher die Banalität der Regelmäßigkeit und das Zwanghaft-Normale der Stimulierung, aus denen sich ablesen läßt, daß es mit der Lust unter Deutschlands Freiern nicht so weit her sein kann. Nach dem Schritt vor die Kamera eine offene und ehrliche Reflexion über das nächtliche Tun zu erwarten, wäre wohl zu viel verlangt. Es ist bedeutend einfacher, sich als Opfer darzustellen oder als Gönner: Der eine redet darüber, als würde er nur aus lauter Fürsorge für seine Frau handeln, damit sie sich durch seinen ständigen Wunsch nach Sex nicht zu sehr bedrängt fühlt. Ein anderer entdeckt plötzlich einen Automatismus, den er als eher belastende Sucht definiert. Ricki Reichel hat die Grenzen eines Tabus überschritten, doch selbst bei den wenigen Bekennern sind zu viele Hemmschwellen vorhanden, um tiefere Einblicke zu gestatten.

Männer wollen Zärtlichkeit, können diesen Wunsch aber nicht äußern. Aus einem Defizit-Gefühl heraus gehen die meisten Freier zu einer Prostituierten, um in der Anonymität der käuflichen Liebe ein Verlangen zu stillen, das anderswo nicht befriedigt wird. Zu diesem Schluß kommt eine Studie des Sozialpädagogischen Instituts Berlin, die als Basis für die Interviews dient. Entscheidende Ursache für die Tabuisierung des Themas ist vor allem das schlechte Gewissen und das Unvermögen, die empfundenen Defizite zu artikulieren. Ricki Reichel blickt ohne Vorurteile auf ihre Männer, weil es zu eindimensional wäre, sie von vornherein zu verdammen. Ihr Herangehen ist verständig, ohne verständnisvoll zu werden. Nur so offenbart sich die ganze Jämmerlichkeit einer gestörten Gefühlswelt. Christof Boy