Räuberbande und Elysium

Hölderlin in der Frankfurter Katharinenkirche  ■ Von Frieder Kern

IDer Grieche am Steuer des Besenwagens der Frankfurter Stadtwerke, der den Platz vor der Katharinenkirche fegt, ahnt nicht, wie nah er seiner fernen Heimat ist. Hyperion, als Eremit in Griechenland, blickt in der Katharinenkirche zurück auf sein Leben: Hinter den Gedanken und Gefühlen, die die Erinnerung weckt, steckt der sehnliche Wunsch, der Vereinzelung des Menschen in der modernen Gesellschaft zu entkommen, zurückzukehren zu einem harmonischen Zustand mit der Natur. Es ist ein Nachdenken übers Scheitern. Auch das.

„Ich war ja so naiv“, gesteht vor dem Fünften Senat des Stuttgarter Oberlandesgerichts Susanne Albrecht und tastet sich in zuweilen stockender Rede heran an jenen Augenblick des 30. Mai 1977, an dem sie sich mit den Worten „Ich bin's, Susanne“ am Gartentor der Ponto- Villa in Oberursel meldet, wenig später dem Nennonkel ihre zwei Begleiter als ihre Freunde vorstellt und dann miterlebt, daß der Vorstandschef der Dresdener Bank nicht wie geplant entführt, sondern von Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt erschossen wird. Als „das Schlimmste, was man überhaupt tun kann“, beurteilt sie unter Tränen die Tat. „Es ist aus“, schreit verzweifelt der Krieger über die in der Mitte der barocken Saalkirche lagernden Verkünderinnen hinweg dem Chor über dem Altarbild entgegen. „Es ist aus, Diotima! unsre Leute haben geplündert, gemordet, ohne Unterschied, auch unsre Brüder sind erschlagen, die Griechen in Misistra, die Unschuldigen, oder irren sie hülflos herum und ihre todte Jammermiene ruft Himmel und Erde zur Rache gegen die Barbaren, an deren Spitze ich war. In der That! Es war ein außerordentliches Project, durch eine Räuberbande mein Elysium zu pflanzen.“

Das Entsagen fällt Hyperion, dem Aussteiger, nicht leicht. „Ich bringe mich mit Mühen zu Worten.“ Das Gemälde solle seinen Rahmen haben, und der Mann sein Tagwerk. Deshalb will er noch eine Zeitlang Dienst nehmen bei der russischen Flotte, „denn mit den Griechen hab' ich weiter nichts zu tun“. Wie aber paßt ins Bild der Rat an Diotima, ihn zu verlassen? „Ich bin für dich nichts mehr, du holdes! Wesen!“ Hyperion sucht den Tod in der Seeschlacht mit den Türken, doch der Anschlag aufs eigene Leben bei Tschesme schlägt fehl, er erwacht, sechs Tage nach dem Gemetzel, aus einem peinlichen, todesähnlichen Schlaf, schickt einen Eilkurier nach Kalaurea zu Diotima, zu retten, was nicht mehr zu retten ist. „Mitten in der Liebe schaudert mich oft, den sanften Jüngling in dieses rüstige Wesen verwandelt zu sehen. Wirst du denn nicht die Liebe verlernen? — Ich dachte dich anderswo zu finden. Aber o süße Stimme, noch hört' ich dich wieder, und deine schöne Hoffnungsfreude hat einen Augenblick auch mich getäuscht.“ Doch nur einen Augenblick. Diotima stirbt. Hyperion bleibt am Leben.

II„Verzeih mirs, daß Diotima stirbt. Du erinnerst dich, wir haben uns ehemals nicht ganz darüber vereinigen können. Ich glaubte, es wäre, der ganzen Anlage nach, nothwendig“, schreibt Friedrich Hölderlin im November 1799 an Susette Gontard.

Als sie sich zum erstenmal sehen, ist sie 27 Jahre alt, Hölderlin ein Jahr älter. Er stellt sich als Hofmeister im Hause Gontard, im Weißen Hirschen, vor, und schreibt Tage später von ihrer „ewigen Schönheit“.

Vormittags unterrichtet er Henry und gelegentlich auch Jette. Am Nachmittag sitzt er in seinem behaglich eingerichteten Zimmer am Hyperion. Der Text weitet sich, verändert sich. Aus der Melite in der ersten Version wird Diotima. „Unsere Seelen lebten nun immer schöner und freier zusammen, und alles in und um uns vereinigte sich zu goldenem Frieden. Es schien, als wäre die alte Welt gestorben und eine neue begönne mit uns, so geistig und kräftig und liebend und leicht war alles geworden, und wir und alle Wesen schwebten, seelig vereint, wie ein Chor von tausend unzertrennlichen Tönen, durch den unendlichen Äther.“

Wo das war? Im Hirschgraben, im Palais der Gontards? Im Haus auf der Pfingstweide im Osten der Stadt oder im Adlerflychtschen Haus — Landhäuser, in denen die Gontards den Sommer verlebten? Oder in Bad Driburg, in Kassel, auf der Flucht vor den heranrückenden Franzosen?

In Kalaurea hebt die Liebe Diotimas Hyperion aus tiefer Niedergeschlagenheit, in Kalaurea erfüllt sich seine Vision von einer anderen, schöneren Welt. „Laßt uns vergessen, daß es eine ZEIT gibt und zähle die Lebenstage nicht! Was sind Jahrhunderte gegen den Augenblick, wo zwei Wesen sich ahnen und nahn? Ach! es war alles geheiligt, verschönert durch ihre Gegenwart. Wir sprachen sehr wenig zusammen. Wovon auch sollten wir sprechen? Wir sahn nur uns.“

III„Eine Schneelandschaft möchte ich sehen“, sagt Franz Moriz, der Hölderlins Hyperion inszeniert, und Johannes Spehr packt die Katharinenkirche in Plastikfolie. Wie Eis, wie EIS sieht das aus. Der Regisseur dirigiert den Chor, die Verkünderinnen, den Krieger, das Liebespaar. Zur ersten Probe am 19.März bringt Frank Moritz Jimi Hendrix und Joe Cocker mit in die Kirche. „Wenn du die Sprache kannst, kannst du auch toben!“ Auch in der Sprache Hölderlins? „Jeder Satz, jedes Wort ist aufgeladen mit Gefühl. Man muß die Sprache, muß jedes einzelne Wort lebendig machen, dann erscheint im Schall der andere Entwurf von Welt.“

„Wir saßen“, schallt's durch die Kirche, „einst mit Notara und einigen andern in Diotimas Garten, unter blühenden Mandelbäumen, und sprachen unter anderem über die Freundschaft. Die Liebe gebar die Welt, die Freundschaft wird sie wieder gebähren.“ „Langsamer“, korrigiert Frank Moritz. „Der Schall! Du mußt spielen mit dem Schall, ihn dir zum Verbündeten machen in der Kirche.“ Ich sitze in der letzten Bank, und neben mir? Hölderlin.

IVEs ist Sommer 1797. Juli. Marie Rätzer, die Erzieherin der Mädchen bei den Gontards und Hölderlins Mittlerin zu Susette, heiratet ihren Louis, den Freiherrn Rüdt von Collenberg, in den sie sich bei einem Fest bei den Bethmanns verliebt hatte. Bei der Hochzeit in der Katharinenkirche sitzt Hölderlin in der letzten Bank. „Zur Hochzeit in der Katharinenkirche“, schreibt Peter Härtling in seinem Buch Hölderlin, „und zum Fest im Weißen Hirsch ist er geladen... Er geht am Schluß des Zuges. Die Kinder erfüllen ihre Aufgaben, werden von anderen beaufsichtigt. Er setzt sich in die letzte Bank, denkt an nichts, denkt sich das ganze vergangene Jahr in einem einzigen Satz, den er nicht festhalten kann, sieht der Zeremonie zu, meint, obwohl die Orgel braust, daß es ein Fest unter Stummen sei, eine unaufhörliche, sinnlose Folge von Umarmungen, Gratulationen, Umarmungen. Susette steht neben dem Freiherrn. Auch sie könnte eine Braut sein. Sie soll das Glück der anderen bezeugen. Nicht seines. Sie hat nicht ein einziges Mal zu ihm hingesehen.“

V„Was legst du die Axt mir an die Wurzeln grausamer Geist? und bin noch da.“ Im Schall dieser Worte, die Ute Prelle spricht, berücken mich Schauer. Gerne erträumte ich mir mit Hyperion, dem jungen Griechen, vom weisen Adamas im Geiste der heroischen Antike erzogen, eine bessere Welt, eine Welt ohne Fremdherrschaft. Vor der Kirche fegt der Grieche den Hof. Vor Stammheim ringt Susanne Albrecht um Worte. In der Katharinenkirche spielt Hölderlin.

Hyperion wird in der Katharinenkirche täglich vom 25. Mai bis zum 2. Juni, jeweils 20 Uhr, gespielt.