Unabhängigkeit: Stimmung in Armeniens Bevölkerung kippt

■ Der blutige Konflikt im Süden kommt Moskau gelegen/ „Die Zentrale spielt bewußt auf Zeit“, glaubt die Nationale Front Armeniens

„Man schreckte uns damit, daß wir von bewaffneten Moslems umzingelt sind und außerhalb der Sowjetunion gar nicht existieren können“, resümiert David Wadranjan die Quintessenz der Gespräche, die er in Moskau mit dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR, Anatolij Lukjanow, und KGB-Chef Krjutschkow letzte Woche geführt hat. Wadranjan leitet den Ausschuß für Außenbeziehungen im Parlament Armeniens.

Mißfallen hat Moskau die rasche Umsetzung des Reformkurses in Eriwan. Binnen weniger Monate privatisierte die armenische Regierung unter dem Vorsitz ihres Premiers Lewon Ter-Petrosjan einen Großteil mittlerer und kleinerer Betriebe und gab an die 60 Prozent des staatlichen Ackerlandes zum Verkauf frei. Moskaus Kommentar: Armenien treibe es zu weit, tue so, als gäbe es die sozialistische Verfassung der UdSSR nicht mehr.

Weit empfindlicher trifft die Sowjetunion allerdings Armeniens Wunsch nach Unabhängigkeit. An der Südflanke des Reiches zur Türkei hin gelegen, würde ein Ausscheren der Republik die Sicherheitsinteressen Moskaus empfindlich verletzen. Natürlich kann die Regierung in Eriwan diesen Faktor nicht ignorieren. Bewußt fuhr die armenische Führung daher seit ihrer Amtsübernahme letzten Jahres einen sanfteren Kurs. Auch nach der Unabhängigkeit solle die UdSSR weiterhin ihre Militärbasen auf armenischem Boden behalten dürfen. Nur müsse es dafür vertragliche Garantien geben.

Von einem Rauswurf der sowjetischen Streitkräfte war ohnehin nie die Rede. Schon im eigenen Interesse nicht. Denn Armenien verfügt über keine eigene schlagkräftige Armee und wird es wohl auch nie. Trotz allen Haders mit Moskau bliebe die UdSSR so etwas wie eine Garantiemacht. Angesichts der Abhängigkeiten schwenkte Eriwan nach und nach auch in anderen die Unabhängigkeit betreffenden Fragen auf Moskaus Vorgaben ein. Im Gegensatz zu den baltischen Republiken, Georgien und Moldawien, die die Union sofort verlassen möchten, will sich Armenien an die in der noch gültigen sowjetischen Verfassung dafür vorgesehenen Modalitäten halten. So hatte es Gorbatschow ursprünglich von allen austrittswilligen Republiken verlangt. Innenpolitisch war dieses Zugeständnis der armenischen Führung heftig umstritten, bis sie dann doch vom Obersten Sowjet der Republik abgesegnet wurde. Die staatliche Souveränität verschiebt sich dadurch immerhin um mindestens fünf Jahre.

Die Kompromißbereitschaft stieß in Moskau nicht gerade auf Gegenliebe. Ohne selbst gegen die Verfassung zu verstoßen, kann es in diesem Fall legale Schritte gegen Armeniens Abgang nicht mehr unternehmen. Die Zuspitzung des Konfliktes zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Enklave Karabach kommt dem Zentrum daher wie gelegen. Ja, es hält es nicht einmal mehr für nötig, seine Sympathien zu verbergen. Im Gegenteil, es mischt kräftig auf Seiten Aserbaidschans mit und stützt damit einen der letzten sozialistischen Feudalherren, den KP-Chef und Präsidenten Aserbaidschans, Muttalibow.

Petrosjan bemüht sich um stetigen Kontakt mit dem Zentrum. Täglich telefoniert er mehrmals mit Innenminister Pugo, Verteidigungsminister Jasow und dem KGB-Chef Krjutschkow. Letzterer hatte ihm vor einigen Tagen zugesagt, wenigstens die marodierenden aserbaidschanischen Spezialeinheiten bei den Razzien nicht einzusetzen. Geschehen ist jedoch nichts. Statt dessen kam aus dem sowjetischen Innenministerium die Depesche, die Angelegenheit fiele in die Kompetenzen des Innenministeriums der souveränen Republik Aserbaidschan. Wieder einmal gibt Moskau vor, mit den Greueln nichts zu tun zu haben.

Hoffnungen auf eine Beilegung des Konfliktes am Verhandlungstisch sind gerade jüngst wieder getrübt worden: Ein bereits unterschriftsreif vorliegender Vertrag, in dem der Status Karabachs neu definiert worden wäre, soll auf Ablehnung gestoßen sein. Hintertrieben habe den Vertragsabschluß der Zweite Sekretär der KP Aserbaidschans, Poljanitschko, besagen Gerüchte in Eriwan. Poljanitschko hatte seine Sporen als Kommandeur in Afghanistan abverdient.

„Moskau spielt bewußt auf Zeit“, meint der Vorsitzende der armenischen Nationalen Front, David Schachnasarian. Mit jedem verlorenen Tag gerät die armenische Regierung mehr unter Zugzwang. Schon jetzt droht die Stimmung in der Bevölkerung umzukippen. „Freiheit, aber für welchen Preis?“ fragen sich die Leute. Die Chancen für das Unabhängigkeitsreferendum sehen viele Intellektuelle mittlerweile schwinden. Der Ausgang sei heute bei weitem nicht mehr so klar wie noch vor ein paar Monaten.

Die Regierung sitzt in einer Zwickmühle. Einen militärischen Konflikt mit dem von Moskau gestützten Aserbaidschan würde sie nicht lange durchstehen. Gibt sie andererseits die Forderung nach Autonomie für Nagorny Karabach preis, wird sie des Verrates geziehen. Auch das wäre ihr sicheres Ende. Um das noch zu beschleunigen, dreht Moskau je nach Belieben den Energiehahn zu. Strom, Benzin und Gas sind rationiert. Abends brennen nur noch wenige Lichter in Eriwans Straßen.