Ein Krieg ohne Kriegserklärung

■ Ausradierte Siedlungen, Deportationen und Mißhandlungen: Aserbaidschanische Spezialeinheiten gehen mit unglaublicher Brutalität gegen Armenier vor. Auch die Sowjetarmee ist an den Massakern beteiligt.

Ein Krieg ohne Kriegserklärung Ausradierte Siedlungen, Deportationen und Mißhandlungen: Aserbaidschanische Spezialeinheiten gehen mit unglaublicher Brutalität gegen Armenier vor. Auch die Sowjetarmee ist an den Massakern beteiligt.

AUS GORIS KLAUS HELGE DONATH

Nur vereinzelt finden sich im Historischen Museum Eriwans Erklärungen in russischer Sprache. Die meisten sind in Armenisch verfaßt. Das Museum liegt im Herzen der Stadt, am ehemaligen Lenin-Platz, neben dem Ministerrat. Seit April ist Lenin aus dem Regierungsviertel verschwunden. Die Architektur des politischen Zentrums mutet seltsam an. In ihrem Stil durchaus Herrschaftsarchitektur, wird sie diesem Anspruch in ihren Dimensionen nicht gerecht. Die Bauten aus der Sowjetperiode fielen viel zu klein aus. Als wollte man die Armenier damals schon auf ein „gehöriges Maß“ zurechtstutzen, ohne ihnen gleich den Wunsch nach Repräsentativem auszuschlagen.

„Unter dem Vorwand, kriegerische Banditen zu entwaffnen, verschafften sich Häscher des ottomanischen Reiches Zugang zu den Dörfern...“, steht im Museum auf einer der wenigen Tafeln in Russisch. Sie behandelt das türkische Genozid an den Armeniern im Jahre 1915. Damals fielen anderthalb Millionen Armenier dem blindwütigen Gemetzel der Türken zum Opfer.

Heute dringen aserbaidschanische Spezialeinheiten und Truppen der Sowjetarmee mit genau der gleichen Begründung in armenische Dörfer ein. Auch das Ergebnis ähnelt sich: Ausradierte Siedlungen, Deportationen, Geiseln und zerstückelte Leichen. Immer wieder treffen auf dem Eriwaner Flughafen Großraumhubschrauber ein, die Flüchtlinge aus der von Armeniern bewohnten Enklave Nagorny Karabach bringen — allerdings nur, wenn die Armenier eine Landeerlaubnis in Karabach erhalten haben. Die Bewilligungen werden völlig willkürlich erteilt. Manchmal setzen die Azeris die Piloten für Stunden oder Tage fest. Garantien gibt es in diesem Krieg keine. Weinende Kinder, halbtote alte Menschen mit nicht vielmehr als einem notdürftig zusammengeschnürten Pappkarton befinden sich an Bord der Hubschrauber. Am Rande der Rollbahn warten Angehörige in der bangen Hoffnung, diesmal könnten ihre Verwandten unter den Ankömmlingen sein. Viele Zwangsausgewiesene berichten, vor ihrem Abtransport hätten sie noch ein leeres Blatt Papier unterschreiben müssen. Daraus wird Aserbaidschan ihren freiwilligen Wunsch zur Deportation machen... Das zentrale sowjetische Fernsehen verbreitet diese Version der „freiwilligen Ausreise“ jetzt schon.

Tagelanges Warten bei eisiger Kälte

Bei Goris, im äußersten Südosten Armeniens, geht die berüchtigte Spezialeinheit Omon, die hier fast nur aus Azeris besteht, ganz systematisch vor. Seit Tagen werden die Bewohner aus den umliegenden Dörfern jenseits der Grenze zusammengetrieben. Man wolle die Versorgung der „armenischen Banditen“ in Karabach durch die Maßnahmen unterbinden, heißt es dazu von offizieller Seite. Nur sechs Kilometer trennen Nagorny Karabach an dieser Stelle vom Mutterland. Gerüchte kursieren, die Azeris schüfen einen 50 Kilometer breiten „Sicherheitskordon“ und wollten alle Armenier aus dieser Zone deportieren.

„Keinen Schritt weiter, stecken Sie Ihre Sachen weg“, brüllt ein Uniformierter und fummelt an seiner Kalaschnikow rum. Er blockiert die winzige Straße in der Nähe von Goris, die die beiden Republiken miteinander verbindet. Schiefe, vermoderte Holzlatten mit Stacheldrahtresten deuten die Demarkationslinie an. Dort warten armenische Männer aus Dörfern des aserbaidschanischen Grenzgebietes. Weiter dürfen sie nicht. Einen Tag haben sie hier schon zugebracht. Die Temperaturen fallen nachts noch unter null Grad. Jetzt, am Tag, liegt die Hochebene in strahlendem Sonnenschein. Die sanften, tiefgrünen Hügel von Karabach im Osten und die schneebedeckten Massive des Kaukasus im Westen rahmen die fruchtbare Hochebene ein.

Der Uniformierte, ein Azeri, weigert sich beharrlich, Auskünfte über seine Funktion zu geben. Er sei ein Offizier der sowjetischen Armee, behauptet er. Der Mann ist hochgradig gereizt. Unter seinem nagelneuen Kampfanzug zeichnen sich Spuren eines weißen Kragens samt rotem Schlipsknoten ab. Mit Sicherheit ist er kein regulärer Sowjetsoldat. Doch die neben ihm stehenden blutjungen angesoffenen Russen hören auf seine Befehle. Sie gehören zu den gewalttätigen Omonze, den sowjetischen Spezialeinheiten, die schon im Baltikum ihr Unwesen trieben. „Mit den Armeniern können sie reden, sobald sie auf der anderen Seite sind“, blockt der Azeri jegliche Frage ab.

Die armenischen Dorfbewohner werden vorerst jedoch nicht kommen. Das Gerücht ging um, die Regierung in Eriwan sei gerade in Verhandlungen mit Moskau. Sie wolle das Zentrum bitten, die Vertriebenen unter dem Schutz der Sowjetarmee wieder in ihre Dörfer in Aserbaidschan zurückzubringen. Wenn bis 17 Uhr nichts geschehen sei, wolle man die Deportierten in Armenien aufnehmen, hieß es. Doch nichts geschah. Seitdem sind zwei Tage verstrichen. Immer mehr Armenier werden an der Grenze zusammengetrieben. Nur Alte und Gebrechliche haben das Lager verlassen dürfen.

Die armenische Regierung ist in einer schwierigen Lage. Sie fürchtet, einen Präzedenzfall zu schaffen: Nimmt sie die Menschen auf, gibt sie ihre Zustimmung auch zu weiteren Deportationen. Das armenische Nagorny Karabach wäre dann nur noch ein Kapitel der Geschichte.

Rund zwei Kilometer vom Grenzposten entfernt haben nachts zuvor Unbekannte eine Schafskolchose überfallen. Faustgroße Löcher klaffen an den Schläfen der Leichen. Die Einschußstellen sind völlig verrußt. Jemand hatte seine Waffe direkt an die Köpfe der Opfer gedrückt. Die einzige Frau sei vorher noch vergewaltigt worden, sagen die Einheimischen. Von den dreihundert Schafen war keines mehr aufzufinden. Für die Dorfbewohner ein sicherer Beweis, daß es Azeris gewesen sein müssen. Denn, was soll die Armee mit den Schafen?

Szenen von beispielloser Brutalität schildern auch die Bewohner des ehemaligen Dorfes Getatschen im Norden des Landes. Vor einer Woche war es dem Erdboden gleichgemacht worden. Behelfsmäßig sind die Vertriebenen in einem Erholungsheim im Rayon Razdan untergebracht, 60 Kilometer von Eriwan entfernt. Auch Einwohner des lange umkämpften Dorfes Martunatschen befinden sich unter ihnen. Es habe keinen Grund gegeben, gegen das Dorf vorzugehen, schreien alle verzweifelt durcheinander. „Nie haben wir einen dieser angeblichen Freischärler gesehen. Keinen Schuß haben wir jemals abgefeuert“, schimpft ein jüngerer Mann. Er bebt.

Eine Lehrerin erzählt mit tränenerstickter Stimme, wie die Armee mit Panzern über die Leichen gerollt ist. Einfach so, um sie unkenntlich zu machen. Auch ihr Mann war darunter. Man hatte ihn zuvor als Geisel genommen. Die Häuser wurden niedergebrannt. „Wir wollen nur euer Land“, erklärten die Eindringlinge den geschockten Dorfbewohnern. Geld und Sparkassenbücher hat man ihnen ebenfalls entrissen — mit der zynischen Bemerkung: „Ihr wollt doch raus aus der Union, wozu braucht ihr dann noch Rubel?“

Die Getatschener machen keinen Unterschied mehr zwischen Azeris und der Sowjetarmee. Sie haben am eigenen Leib erlebt, daß sich beide an Brutalität in nichts nachstehen. Sie können aber nicht verstehen, warum ihnen auch die Russen etwas antun. „700 Männer aus unserem Dorf sind im 2. Weltkrieg für die UdSSR gefallen, drei Helden des Krieges lebten noch unter uns“, klagt ein 70jähriger Mann verbittert. Er hat an die Russen als einzige Garantiemacht des drangsalierten armenischen Volkes geglaubt — und mit ihm viele seiner Landsleute.

„Die Kämpfe früher waren doch nur Schußwechsel“, meint eine jüngere Frau zwischendurch aufgebracht. Sie empört sich über die Unverhältnismäßigkeit. Es fällt ihr dabei gar nicht auf, daß sie gerade etwas eingesteht: Es gibt sie doch, diese Freischärler, auf die es Armee und Omonze eigentlich abgesehen haben. Doch wo stecken die „Fedai“, wie sie die Armenier nennen? Auch der Pressechef des Obersten Sowjets Armeniens leugnet die Existenz organisierter Freischärler. Zwar stünden rund 1.900 Mann unter Waffen. Sie seien jedoch Kontrolleinheiten oder der Miliz angegliedert.

Die eigentlichen Freischärler ausfindig zu machen, ist dagegen aus vielerlei Gründen schwierig. Die Armenier sehen in den „Banditen“ ihren einzigen Schutz — einen Schutz, den die Regierung ihnen nicht gewähren kann. Die meisten der organisierten Freischärler sind nach Gorbatschows Ukas im letzten Jahr tatsächlich demobilisiert worden. Nur ihr harter Kern hat sich in die Berge verzogen. Besonders in den Grenzregionen blieben aber auch weitere Gruppen straff organisiert und sind jederzeit einsatzbereit. Tagsüber gehen sie ihren bürgerlichen Berufen nach oder sitzen sogar in den lokalen Parlamenten. Jeder kennt sie, es sind die Nachbarn. Das Trauma des Genozids beherrscht in Armenien immer noch die Sinne.