Volk in Halle: Wir sind der Stau

Krieg auf dem Asphalt/ Nichts geht mehr im halleschen Verkehr/ Vierspurige Ausfallstraßen sollen „Durchlaßfähigkeit“ vergrößern/ Grüne Liga fordert bislang vergeblich eine „Stunde Null“  ■ Aus Halle Steve Körner

Der Krieg läuft täglich, stündlich, überall. Seit der Erfindung des Autos hat er 25 Millionen Opfer auf beiden Seiten gefordert. Der Krieg ist der Straßenverkehr. In den Altbundesländern kamen bislang erst reichlich über eine halbe Million Menschen ums Leben. Die DDR-Zahl in den vergangenen 20 Jahren: 18.000 Tote. Doch der Osten holt auf. In Halle, Sachsen-Anhalt, beispielsweise, starben auf den Straßen in den ersten vier Monaten dieses Jahres 17 Leute. Gegenüber 24 im gesamten vergangenen Jahr.

Die Verkehrspolizei ist ratlos. Man hat ihnen die Radargeräte weggenommen, um sie neu zu eichen. Außerdem hört eh keiner mehr auf die immer noch als rot verschrienen Grünen. Die Verkehrsplaner ihrerseits ringen die Hände, die Autofahrer schütteln die Fäuste. Umweltschützer wiederum blockieren aus Protest den verkehrsreichsten Platz der fünf neuen Länder, den halleschen Thälmannplatz. Nichts geht mehr. Das Chaos ist perfekt.

Waren vor einem Jahr in Halle noch nur etwa 280 Privatfahrzeuge pro 1.000 Einwohner angemeldet, so sind es heute schon 352. „Eine Zahl“, schüttelt Rolf Hörnig, Chef des Verkehrsplanungsamtes der Saale-Stadt den Kopf, „die wir erst um die Jahrtausendwende zu erreichen glaubten.“ Doch die Wirklichkeit schert sich wenig um den Glauben der Behörden. Die Zahlen steigen weiter. Noch immer sitzen die ersten Bewerber für neue PKW-Kennzeichen schon gegen sieben Uhr morgens vor den Türen der Zulassungsstelle. Noch immer sind die Warteschlangen lang und geduldig. Auswege aus dem Dilemma aber sind nicht in Sicht.

Während Halles gerade ihr 100.Jubiläum feiernde Straßenbahn auch nach den jüngsten Fahrpreiserhöhungen weiter vor allem tiefrote Zahlen einfährt, hält der Drang der Hallenser zum eigenen Rollblech unvermindert an. Die Fahrgastzahlen der öffentlichen Verkehrsunternehmen Bus, Straßen- und Schnellbahn gehen seit Monaten dramatisch zurück. Trotz permanent verstopfter Straßen und fehlender Parkplätze drängeln und schieben sich die Karossen weiter durch die engen, holprigen Gassen der Altstadt. Auto ist in. Wer nicht fährt, lebt verkehrt.

Verkehrsplaner Hörnig konstatiert inzwischen allein für den unmittelbaren City-Bereich Parkplatzbedarf von City-Größe. Man müßte die Innenstadt quasi abreißen, wollte man den Parkplatzbedarf ihrer Besucher befriedigen. Daß das nicht gehen wird, hat indessen auch Baudezernent Ingo Keutz begriffen. Er will Parkbunker buddeln lassen, um den Teufelskreis aus in die Innenstadt strömenden Fahrzeugen und fehlenden Stellplätzen zu durchbrechen. Die bisher nur zweispurigen Ein- und Ausfallstraßen sollen zudem schnellstens auf vier Spuren erweitert werden, um die „Durchlaßfähigkeit“ zu vergrößern.

„Verkehrspolitischen Schwachsinn“ nannten Vertreter von mehr als zwanzig halleschen Bürgerinitiativen, Ökogruppen und Umweltvereinen die Verkehrspläne des städtischen Magistrats. Vierspurige Stadtautobahnen, meinen die Leute von Grüner Liga, Bürgerinitiativen und vom Unabhängigen Institut für Umweltfragen, ziehen den Verkehr erst recht an.

Bevor mit der Sanierung und dem Ausbau des Verkehrsnetzes in Halle begonnen wird, so ihre Forderung, muß ein Generalverkehrsplan für die Stadt erstellt werden. Das aber dauert. „Vier bis fünf Jahre“, denkt Verkehrsplaner Hörnig. Zu lange für die aus allen Nähten krachende Stadt.

Ein grobmaschiger „Verkehrsentwicklungsplan“ verspricht schnelle Abhilfe für die größten Nadelöhre der Stadt. Erst auf lange Sicht visieren die Verkehrsplaner die autofreie Innenstadt, flächendeckendes Tempo 30 in den Wohngebieten und den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs an. Doch die radfahrenden und fußgehenden BürgerInnen wollen mehr. Knackpunkt ist der Ausbau der Ausfallstraßen, von Autofahrern und städtischer Wirtschaft ebenso vehement gefordert, wie von den unabhängigen Verkehrsgruppen abgelehnt. Ihnen stärkt Halles Nahverkehrschef Werner Colditz, nebenberuflich FDP- Fraktionschef in der Stadtverordnetenversammlung, den Rücken: „Das Geld, was jetzt für die Straßen ausgegeben wird, wäre bei der Sanierung der Straßenbahn besser angelegt.“

Heiner Giersch vom Unabhängigen Institut für Umweltfragen mahnt eine Stunde Null, eine Umkehr in eine vernünftige Verkehrszukunft an. Gemeinsam mit Vertretern der Bürgerinitiativen erarbeitete das Institut einen Rahmenplan für eine ökologisch orientierte Verkehrsentwicklung. Aus für den Individualverkehr in der Innenstadt, vorrangige Förderung des Personennahverkehrs, vor allem aber Verkehrsvermeidung — das sind die Stichworte des Papiers.

„Deshalb sprechen wir uns auch kategorisch gegen den Bau großzügiger Umgehungsstraßen aus“, meint Georg Giersch von der Bürgerinitiative (BI) Paulusviertel, „denn durch die würde der Verkehr ja doch nur in andere Stadt- und Umlandregionen verlegt, und andere Menschen wären die Betroffenen.“

Die BI favorisiert das Prinzip der „kurzen Wege“: Schon bei der Planung und Erschließung neuer Wohnungen, Fabriken und Handelseinrichtungen müsse auf die Vermeidung künftigen Verkehrs geachtet werden. Eine Utopie — wo rings um die Stadt Gewerbegebiete und Einkaufsparks aus der grünen Wiese sprießen.

Verkehrsaktivisten der Grünen Liga wollen den privaten Individualverkehr, auf den heute rund achtzig Prozent aller Fahrten im Stadtgebiet entfallen, langfristig um die Hälfte verringern. Sie setzen auf ein gut ausgebautes Nahverkehrssystem. Aber das erfordere eine politische Entscheidung und mutige verkehrsregelnde Maßnahmen, meinen die Ligisten. Sie könnten es schaffen. Noch nämlich ist „park & ride“ in Halle mindestens ebenso ein Fremdwort wie Nahverkehrsverbund. Gerade erst haben die verschiedenen öffentlichen Verkehrsunternehmen die gegenseitige Anerkennung ihrer Fahrscheine, die es vor der Wende schon gegeben hatte, wieder verschoben — „technische Probleme“. Und so heißt es auf Halles Straßen eben: Wir sind der Stau!