Lahmer Sehnsuchtsträger

■ Volker Hassemer sprach über Stadt- und Kulturentwicklung im Haus Drama

Die Provokation in der Fragestellung »Stadtentwicklung = Kulturentwicklung oder?« haben wohl alle außer dem Referenten des Abends, dem Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Volker Hassemer, gehört. Alle außer ihm vermuteten dahinter eine Anspielung auf das möglicherweise reziproke Verhältnis von Stadterweiterung und Kulturverknappung, nicht zuletzt sieht das Haus Drama, das zu diesem Abend geladen hatte, seine Überlebenschance als Kulturstätte im Prozeß der Hauptstadtwerdung bedroht. Volker Hassemer ging über die diesbezüglich geäußerte Frage leichten Herzens hinweg: »Da habe ich schon ganz andere Umwidmungen erlebt, das kann Ihnen natürlich passieren, daß Ihnen die Nutzungsrechte für Ihr Haus bei dieser Lage (in der Nähe des Reichstags) von einem Tag auf den anderen abgesprochen werden.«

Volker Hassemer erblickte in jedem Fall nirgends eine Provokation. Für ihn seien vielmehr die beiden Seiten der Gleichung identisch, seit dem Mauerfall sei sowieso ein permanentes Kulturereignis im Gang, die Stadtentwicklung das Kulturereignis schlechthin. Kultur müsse folglich weder beschrieben, programmiert noch gefördert werden. Wenn das Hochkulturereignis nicht von jedermann als solches wahrgenommen werde, sei es nur Schuld dieses Jedermann; überhaupt sei die Bevölkerung viel zu träge, nicht auf der Höhe der Zeit... und des Senats: Hassemer sparte nicht mit aufrüttelnden Worten an seine Untertanen, diese »menschlichen Systeme«, die, wie er nach 20 Jahren Umweltschutzdienst erkannt habe, »sich nicht schneller veränderten als die natürlichen«.

Das kulturelle Ereignis von heute sei ja: an der Schwelle zu stehen. Diese »Beispiellosigkeit« der kulturellen Situation erfordere beispiellose Maßnahmen und die entsprechenden Stadtplanungs- und Stadtentwicklungsmaßnahmen einen beispiellosen Schwellenüberwinder. Daher auch seine Befürwortung der Olympiade. Nach dem Motto »Nur wer sich etwas Großes zumutet, lernt seine Grenzen kennen« wies sich Hassemer erneut als Lobbyist von Hochleistungsspektakeln aus, »nur das Extreme hat Wert«, sowie der Hochfinanz. »Das Gute an der Olympiade ist ja, daß sie im Jahr 2000 stattfindet«, meinte der symbolhungrige Leib- und Magenjubilar — im Nebeneffekt habe sie auch stadtintegrative Funktion, binde die Stadt zwischen West- und Ostkreuz zusammen, fordere Lösungen für »schwierige« Orte, die im anderen Fall lange aufgeschoben würden.

Hassemer klopfte sich während seiner Ausführungen generös selbst auf die Schulter für so viel rhetorisch-dramaturgische Raffinesse, er schied auch nicht, ohne der Kultur zuletzt doch noch einen utopischen Raum zu eröffnen: den, in dem Verlangsamung möglich und wünschenswert sei. Kultur habe ja nicht die Rolle der Selbstbehauptung, sondern die der Sondierung: Als Oase innerhalb der allgemeinen Beschleunigung könne sie mehr den je Sehnsuchtsträger sein. M.O.