Der innenpolitische Feind Nummer zwei

■ Jugendgangs werden zum Gegenstand polizeilicher Datensammelwut/ Zum „gläsernen Jugendlichen“ ist es nicht mehr weit

Multikulturelle und rechte Streetgangs, Hooligans, linke und Nazi- Skinheads, jugendliche Subkulturen, die sich als umherschweifende Gangs lautstark Gehör verschaffen, werden von konservativen Politikern und Ordnungskräften nach dem Terrorismus zum innenpolitischen Feind Nr. 2 hochstilisiert. Ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt die Gewalt. Das Anziehen der Gewaltschraube gegenüber diesen Jugendlichen zeigt, daß die offizielle Politik nichts anderes zu bieten hat als Ausgrenzung und Kriminalisierung.

Gewinnt eine Jugendbewegung an Bedeutung, ist der Schritt zur systematischen Observation häufig schon getan. Die Namen der Archive, in denen die Fahndungsergebnisse aufbewahrt werden, ändern sich : „Rockerkartei“, „Hausbesetzerkartei“, „Skinheadkartei“, „Arbeitsgruppe Jugendspezifische Gruppenkriminalität“, „Fachkommissariat Straftaten junger Gewalttäter“ usw. Die Ziele bleiben dennoch dieselben: Jugendliche Autonomiebestrebungen sollen der systematischen Kontrolle unterworfen werden.

Über die Arbeitsweise der fünf Ermittlungsgruppen in Berlin gibt ein Bericht der Senatsinnenverwaltung vom 27. Juni Auskunft: „Die örtlich zuständigen ,Ermittlungsgruppen Jugendgruppengewalt‘ nutzen insbesondere die räumliche Nähe zu erkannten Treffpunkten der Jugendlichen, verfügen über gute Kenntnisse hinsichtlich der polizeilich relevanten Personen und sind aufgrund ihrer Nähe zu den örtlich angebundenen operativen Kräften (Fahndungsgruppen, Einsatz- und Ausbildungstrupps) in der Lage, schnell und angemessen zu reagieren.“

In Frankfurt legte das für Straßenraub und Jugendkriminalität zuständige Kommissariat 14 eine Lichtbildkartei an. Frankfurts Polizeisprecher Karl-Heinz Reinstädt findet daran nichts Verwerfliches. „Es ist nach der Strafprozeßordnung und dem Polizeigesetz gerechtfertigt, Jugendliche, die auf ,frischer Tat ertappt‘ werden, bei der Personalienfeststellung abzulichten.“ Fotos, so die Auskunft des hessischen Datenschutzbeauftragten, der die Kartei überprüfte, dürfen vor Ort jedoch nur dann gemacht werden, wenn die Jugendlichen damit einverstanden sind.

Auch in Berlin existieren Lichtbildkarteien mit den Fotos „potentieller Gewalttäter“, die Opfern zur Identifizierung vorgelegt werden. Bei ihren Ermittlungsarbeiten greift die Polizei gerne einmal auf zweifelhafte Methoden zurück. Der Bericht eines Polizeibeamten: „Nachdem wir in unserem Abschnitt immer wieder Schwierigkeiten mit einer Gang hatten, paßten wir den Moment ab, an dem sich die Gruppe auf einem Bolzplatz traf. Wir umstellten den Platz, nahmen die Jugendlichen vorübergehend fest und fotografierten sie mit Polaroid. Die Methode hat sich bewährt, die Jugendlichen zeigten sich verunsichert und haben ihre Bande aufgelöst.“

Offiziell werden solche Verfahrensweisen abgestritten, von den Jugendlichen allerdings immer wieder bestätigt. Übrigens erwies sich die Methode in Wahrheit nicht als wirksam. Unter anderem Namen schlossen sich die Jugendlichen zu neuen Gangs zusammen.

In West-Berlin ist heute bereits mindestens jeder zwanzigste männliche türkische oder jugoslawische Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren mit personenbezogenen Daten in Polizeicomputern abgespeichert. Bei den deutschen Jugendlichen ist es nur jeder einhundertfünfzigste. In den Personenkarteien „Gruppengewalttäter“ und „Roheitsdelikte“ waren im April 1991 mehr als 4.000 Namen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen registriert. Allein 1990 erfaßte die zentrale Datei der „AG Gruppengewalt“ in Berlin — sie legt ihr Augenmerk vor allem auf die Jugendbanden — mehr als 1.500 Jugendliche mit personenbezogenen Daten. Etwa 1.000 sind türkischer oder jugoslawischer Herkunft. Aber nur ein Bruchteil von ihnen läßt sich eindeutig einer Streetgang zuordnen. Bei den restlichen genügte der bloße Verdacht eines Einsatzkommandos, das bei schwarzen Haaren und Hip-Hop-Outfit kriminelle Gang assoziierte und die Jugendlichen je nach Bedarf mit Polaroidfoto, Personalien und Fingerabdrücken erfaßte.

Zumindest Berlins Ex-Innensenator Erich Pätzold mochte nicht ausschließen, daß ein „an Vorurteilen orientiertes Anzeigeverhalten der Bevölkerung“ zu einem verzerrten Bild führen kann. Bei den deutschen Jugendlichen greift ein anderes Polizeiverhalten: Von den knapp fünfhundert registrierten teutonischen Jungs ließ sich die Mehrheit eindeutig bekannten Gangs zuordnen.

Rassismus pur. Innerhalb eines Jahres haben sich die Datei der „AG Gruppengewalt“ und die dezentralen Ermittlungsgruppen — wenn die Intentionen auch andere sein mögen — zu Institutionen einer flächendeckenden Überwachung und systematischen Kriminalisierung ausländischer Jugendlicher entwickelt.

Spätestens seit dem 20. April 1990, als sich spontan mehr als siebenhundert überwiegend türkische Jugendliche aus Streetgangs, Cliquen und Antifagruppen mit der Absicht zusammenschlossen, die zu Ehren Adolf Hilters randalierenden Neonazis und Hooligans zu vertreiben, fürchtet Berlins politisches Establishment das erwachende Widerstandspotential ausländischer Jugendlicher. Sie wissen genau, daß sich die punktuelle Zusammenarbeit zwischen Streetgangs, demokratischer, antifaschistischer und desorientierter Immigrantenjugend zum Flächenbrand ausweiten kann.

Seit diesem Zeitpunkt entwickeln die „Geprächsbullen“, wie sie mittlerweile von den Jugendlichen liebevoll genannt werden, unkonventionelle Methoden, um ihre Sammlung zu komplettieren. Als im Januar 1991 ein türkisches Gangmitglied mit rechten Skins und Polizisten der „AG Vorbeugung“ im Berliner Radio DT 64 diskutierte, zückte ein Beamter plötzlich seine Polaroidkamera, um ein Bild „für mein privates Album“ festzuhalten.

Sowohl in Frankfurt als in Berlin rief der Erfassungswahn die Datenschützer auf den Plan. Vor allem für ausländische Jugendliche sind die Dateien eine brisante Angelegenheit. In Verbindung mit dem neuen Ausländergesetz kann die Sammelleidenschaft der Beamten verheerende Folgen haben. Nach §76, Absatz 5, sind Behörden wie die Polizei nämlich zur Übermittlung personenbezogener Daten an die Ausländerbehörde verpflichtet. Dieses Material kann bei der Entscheidung über die Verfestigung des Aufenthaltsrechts oder für eine Ausweisung herangezogen werden.

Inoffiziell werden derartige Praktiken bereits angewandt. Als das Gangmitglied Kerim einen Antrag auf Einbürgerung stellte, legte ihm der Sachbearbeiter die Reportage einer Illustrierten über seine Gang vor. Anschließend verlangte der Beamte noch Informationen über das Innenleben der Gruppe. Yasar, der in Wirklichkeit keiner Gang angehört, aber im gefährlichen Alter von siebzehn Jahren und dazu noch Türke ist, wurde die Aufenthaltsberechtigung verweigert. Man verdächtigte ihn, einem Mitschüler die Baseballjacke abgezogen zu haben. Zwar konnte später ein deutscher Klassenkamerad der Tat überführt werden, doch für die Ausländerbehörde war die „Aktenlage“ maßgeblich.

Mit der Berliner Datei läßt sich der — sicherlich zum Teil mit zweifelhaften Mitteln geführte — Kampf der Jugendlichen um Bürgerrechte und soziale Gleichstellung niederschlagen. Das Ausländergesetz bietet dafür die gesetzlichen Grundlagen, die Datei das nötige Informationsmaterial.

Die Möglichkeiten zur Internierung Jugendlicher in ihnen unbekannte „Homelands“ bestehen. Es ist der Anfang einer Apartheidspolitik, wenn Jugendliche, die in der Bundesrepublik geboren und aufgewachsen sind, in die Türkei oder in den Libanon abgeschoben werden, nur weil dies die Herkunftsländer ihrer Pässe sind. An der Herstellung des gesellschaftlichen Konsenses für derartige „Umsiedlungsaktionen“ wird kräftig gearbeitet. So zog die CDU Berlin unter Vorsitz des Generalsekretärs Landowsky mit folgenden Forderungen in den letzten Bundestagswahlkampf: „Einrichtung einer Sonderkommission (Soko) 'Ausländische Jugendbanden‘“ und „Unverzügliche Abschiebung volljähriger ausländischer Straftäter ... Heranwachsende sollen bei Erreichen ihrer Volljährigkeit und nach Verbüßen ihrer Strafe ebenfalls in ihre Heimatländer geschickt werden“.

Alte Schätzungen der Berliner Polizei, die noch im letzten Jahr von 4.000 gewaltbereiten Jugendlichen allein in West-Berlin ausgingen, scheinen überholt. Wolfgang Gehrke, Mitarbeiter der „AG Gruppengewalt“: „Um aus einer Studie des Bielefelder Pädagogen Heitmeyer zu zitieren: Jeder fünfte Jugendliche zwischen 16 und 18 akzeptiert Gewalt als Problemlösungsmittel. Das bereitet mir mehr Sorgen als das, was augenblicklich da ist. Das Potential, das im wahrsten Sinne des Wortes Gewehr bei Fuß dasteht und bereit ist mitzumischen. Die potentiellen Opfer, die sich zunehmend bewaffnen zwecks Selbstverteidigung. Von der Selbstverteidigung zur Selbstjustiz ist es nur ein kleiner Schritt.“ Die Jugend, ein innenpolitisches Sicherheitsrisiko! Klaus Farin

Eberhard Seidel-Pielen

Von den beiden Autoren erschien in diesen Tagen „Krieg in den Städten. Jugendgangs in Deutschland“ Rotbuch Verlag, Berlin 1991.