DEBATTE
: Mehr UNO wagen!

■ Kein Mogeln mit dem Grundgesetz

Es sei „abwegig“, sich auf die Linie einer Verfassungsänderung einzulassen, so erklärte Heidemarie Wieczorek-Zeul am Dienstag in der 'Frankfurter Rundschau‘. Weder humanitäre Hilfeleistung der Bundeswehr außerhalb Deutschlands noch Blauhelm- Missionen unter UN-Kommando als Polizeieinsätze zur Friedenssicherung bedürften einer Verfassungsänderung. Und Gerhard Schröder stößt am Donnerstag in 'Die Welt‘ ins selbe Horn: „Ich gehöre zu denen, die eine Beteiligung strikt auf Blauhelm-Aktionen beschränken wollen. Also Aktionen nur auf Wunsch der Konfliktparteien unter der Verantwortung des UN-Generalsekretärs und bei denen Gewalt nur zur Selbstverteidigung eine Rolle spielt. Dazu braucht man keine Verfassungsänderung.“

Grundgesetzänderung und Friedensmissionen

Da fasse ich mich an den Kopf. Während Horst Peter in der taz vom Sonnabend seine Bundestagsfraktion auffordern will, „keiner Grundgesetzänderung zuzustimmen, weil mit einer Blauhelm-Option im Grundgesetz „die Tür für weltweite Einsätze der Bundeswehr geöffnet werden kann“, sagen Heidi und Gerd: „Die Tür steht schon offen.“

Bitte bloß keine Bündnispolitik in Bremen nach dem Muster alter Juso- Kongresse: Realer Pazifismus und Antirevisionisten „kriegen eine Mehrheit zusammen“. Bei unterschiedlicher Ausgangslage das gemeinsame Ergebnis: nichs tun dürfen und nichts entscheiden müssen. So kann man sich an der Sache nicht vorbeimogeln!

Bisher war es verfassungspolitischer Konsens zwischen den Parteien in der Bundesrepublik, daß Blauhelm-Aktionen der Bundeswehr nur nach einer Verfassungsänderung zulässig sein würden. Die Regelung des Artikels 87a Absatz 2 Grundgesetz ist klar: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.“ Von friedenserhaltenden Missionen der UNO (Blauhelm-Aktionen) ist im Grundgesetz nirgendwo die Rede. Und mit Verteidigung des Bundesgebietes haben sie nichts zu tun, denn sie sind Maßnahmen nach Bürgerkriegen und nach Kriegen zwischen Staaten außerhalb des Bündnisgebietes.

Peace-keeping-missions sind gefährliche und politisch hochsensible Einsätze. Sie sind Ernstfall und keine Übung. Wer die Bundeswehr daran beteiligen will, braucht eine klare verfassungsrechtliche Grundlage. Ich bin dafür. Ich bin für eine parlamentarische Kontrolle durch eine Zweidrittelmehrheit in jedem Einsatzfall. Wer Blauhelm-Aktionen ohne eine Verfassungsänderung für zulässig erklärt, stellt sie schon jetzt in das Belieben der Bundesregierung.

UN als funktionsfähige Weltpolizei

Ich weiß nicht, was Heidi und Gerd —und Oskar scheint ihnen zu folgen— zu ihrer neuen abenteuerlichen Verfassungsinterpretation bewogen hat. Es gibt die Rechtsauffassung, die Bundesrepublik habe durch ihren ohne Vorbehalt erklärten Beitritt zu den Vereinten Nationen alle Pflichten aus der UN-Charta übernommen. Nach Artikel 43 der Charta seien alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, „zur Wahrung des Weltfriedens und der Internationalen Sicherheit“ dem Sicherheitsrat auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung zu stellen, und diese Verpflichtung gelte schon jetzt für die Bundesrepublik. Ich teile diese Rechtsauffassung nicht. Das Grundgesetz müßte zu diesem Zweck „ausdrücklich“ geändert werden. Im übrigen würde diese Rechtsauffassung zu dem absurden Ergebnis führen, daß Streitkräfte für die UNO Pflicht für die Bundesrepublik, Friedenstruppen dagegen verboten wären. Denn während Streitkräfte in der Charta stehen, haben sich die Regeln für die Friedenstruppen außerhalb der Charta gewohnheitsrechtlich entwickelt. Zwar sieht das Grundgesetz im Artikel 24 vor, daß sich der Bund einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnet (so mit dem Beitritt zur UNO) und „hierbei in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen“ wird (so, wenn er Streitkräfte für den Sicherheitsrat zur Verfügung stellt), aber durch Gewohnheitsrecht kann das Grundgesetz nicht durchbrochen werden.

Keine halben Sachen

Der Artikel 43 der UNO-Charta ist noch nicht zur Anwendung gekommen. Die Sonderabkommen, die nach der UNO-Satzung zwischen dem Sicherheitsrat und den Mitgliedsstaaten abgeschlossen werden müßten, um die erforderlichen Truppenkontingente zur Verfügung zu stellen, sind noch nicht ausgehandelt worden. Weil die UNO als Weltpolizei noch nicht funktioniert hat (militärische Zwangsmaßnahmen als ultima ratio unter der Verantwortung des Sicherheitsrates und bei der strategischen Leitung durch seinen Generalstabsausschuß) haben im Golfkrieg die schwarzen Sheriffs unter der Leitung der amerikanischen Supermacht mit der völkerrechtlichen Legitimation von Sicherheitsratsbeschlüssen gegen Saddam Hussein und den Irak gekämpft. Das war keine UNO-Aktion, sondern eine Aktion mit UNO-Zustimmung. Wenn sich Ähnliches nicht wiederholen soll, muß die UNO als Weltpolizei funktionsfähig gemacht werden. Ich bin dafür. Und ich bin dafür, daß wir die Verfassung so ändern, damit es möglich wird.

Ich hab' was gegen halbe Sachen. Ich möchte die Verfassung nicht nur für die Blauhelm-Option öffnen, sondern auch für den Einsatz einzelner Bundeswehreinheiten unter der Verantwortung des Sicherheitsrats und der strategischen Leitung seines Generalstabsausschusses auf der Grundlage der Mitgliedsverpflichtung aus Artikel 43 der UNO-Charta. Das Grundgesetz muß dabei und dadurch so präzisiert werden, daß die Beteiligung der Bundeswehr bei Kampfhandlungen mit bloßer Billigung des Sicherheitsrates wie im Golfkrieg ausgeschlossen und jeder andere militärische Einsatz out of area, also außerhalb des WEU- und Natovertragsgebietes, verboten wird. Für den Einsatz der Bundeswehr muß nicht nur im Verteidigungsfall, sondern auch im Bündnisfall eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages erforderlich sein. Regelungsbedürftig sind auch die Voraussetzungen und Bedingungen humanitärer Hilfe der Bundeswehr im Ausland, und es müssen klare Regelungen für Wehrpflichtige getroffen werden.

Es ist unverkennbar, daß sich konservative Kreise in der Bundeswehrführung im Verein mit Teilen der CDU/CSU seit Jahren um eine extensive Auslegung des Grundgesetzes bemühen, die weltweite Einsätze von Bundeswehreinheiten ermöglichen soll. Larmoyante Presseerklärungen sind dafür keine geeignete Gegenstrategie.

Ein Vorschlag zur Grundgesetzänderung

Wir müssen sagen, was wir wollen. In der Hoffnung, die Diskussion konkretisieren und versachlichen zu können, habe ich folgenden Vorschlag für Verfassungsänderungen zur Diskussion gestellt:

Artikel 24 a (neu)

I. Außer zur Verteidigung des Bundesgebietes dürfen bewaffnete Streitkräfte des Bundes nur zur Verteidigung von Staaten eingesetzt werden, mit denen der Bund vertragliche Verpflichtungen zur gemeinsamen Verteidigung eingegangen ist, und zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Rahmen des Kapitels VII der Charta der Vereinten Nationen, wenn die Bundesrepublik gemäß der Verpflichtungen aus Artikel 43 der Charta der Vereinten Nationen dem Sicherheitsrat Streitkräfte zur Verfügung gestellt hat.

II. Zum Einsatz bei friedenserhaltenden Operationen kann der Bund den Vereinten Nationen auf deren Ersuchen hin und unter Zustimmung der am Konflikt beteiligten Staaten Truppen zur Verfügung stellen, die nur mit leichten Waffen zum Selbstschutz ausgerüstet sind.

III. Für humanitäre Hilfeleistungen außerhalb des Bundesgebietes können unbewaffnete Einheiten und Ausrüstungen der Bundeswehr zur Verfügung gestellt werden, wenn die Zustimmung des auswärtigen Staates vorliegt, auf dessen Gebiet sie eingesetzt werden sollen.

IV. Einsätze nach Absatz I und Absatz II bedürfen der vorherigen Zustimmung von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen der Mitglieder des Bundestages.

V. Wehrpflichtige dürfen in Streitkräften, die dem Sicherheitsrat gemäß der Verpflichtung aus Artikel 43 der Charta der Vereinten Nationen zur Verfügung gestellt werden, keinen Dienst leisten. Sie sind zu Einsätzen nach Absatz II. und Absatz III. nicht verpflichtet.

Moralische, nicht moralisierende Politik

Nun höre ich den Einwand, ein solcher Vorschlag sei illusorisch, weil die CDU/CSU dem nie zustimmen würde, und man bräuchte ja eine Zweidrittelmehrheit. In der Politik geht es zunächst darum, was man will, und dann darum, was man durchsetzt. Es gibt Bereiche, in denen man Kompromisse schließen kann. Für mich kommt kein Kompromiß in Frage, der den Einsatz der Bundeswehr in Nato-Eingreiftruppen oder Eingreiftruppen der WEU oder einer anderen europäischen Einrichtung „out of area“ ermöglicht.

Die vorgeschlagene Verfassungsänderung würde der Bundesrepublik in den Vereinten Nationen eine aktive Politik ermöglichen. Unsere UNO-Politik wird nur dann ernst genommen werden, wenn wir Reformvorschläge mit unserer Bereitschaft verbinden, auch alle Pflichten aus der Mitgliedschaft einzuhalten. Eine Politik, die von anderen fordert, was sie selbst nicht zu leisten willens ist, ist keine moralische, sondern eine moralisierende Politik.

Jahrzehnt der UNO oder Jahrzehnt des Chaos

Dieses Jahrzehnt wird das Jahrzehnt der Uno werden oder ein Jahrzehnt des Chaos, in das die Supermächte — die amerikanische oder vielleicht auch die europäische — nach ihren Interessen „ordnend“ eingreifen werden. Natürlich gibt es Sicherheitsprobleme out of area — militärische und mehr noch nichtmilitärische, die aus Unterentwicklung und Überbevölkerung, aus Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung, aus Herschaftsansprüchen von Diktatoren und Ideologen resultieren. Ich bin dafür, daß wir der UNO die Kraft geben, diese Konflikte zu verhindern und zu lösen. Ich bin für eine UNO der zweiten Generation. Ich plädiere für den Mut, die Vision einer Weltregierung konkret werden zu lassen. Einer neuen Weltordnung kommen wir nur näher, wenn Kriegshandlungen geächtet und unterbunden werden und die Vereinten Nationen das internationale Gewaltmonopol erhalten.

Die von mir vorgeschlagene Verfassungsänderung enthält kein Risiko zum Mißbrauch der Bundeswehr. Sie ist ein Wagnis für eine reale Utopie. Mehr UNO wagen! Norbert Gansel

Der Autor ist einer der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD-Fraktion im Bundestag