Psychologie ist kleiner als Poesie

Interview mit Cesare Lievi, der in Wien „Blaubart. Ein Puppenspiel“ von Georg Trakl inszeniert  ■ Von Tanja Neumann

Cesare Lievi: Die Frühlingsstimmung am heutigen Tag hat sehr viel mit Trakls „Blaubart“ zu tun: dort ist zu Beginn auch Frühling, der geheime, schwarze Kräfte weckt. Der junge Mann, Herbert, versteht es nicht, mit ihnen umzugehen; er hat so große Angst, daß er sich umbringt.

Tanja Neumann: Angst vor der erwachenden Erotik?

Ja, aber auch vor dem Erwachsenwerden; denn reif zu werden, hieße, diese dunklen Kräfte zu akzpetieren. Blaubart hat dies getan, genauso wie der Alte, der alles mit einer Mischung aus Fatalität und Mitgefühl anschaut. Diese drei Figuren erinnern an Bilder von Tizian oder Giorgione, bei denen die drei Altersstufen ihre je eigene Weisheit haben — anders als bei Trakl.

Trakl hat dieses Fragment als Puppenspiel konzipiert. Wie gehen Sie damit um?

Um zu zeigen, daß Trakl keinen ruhigen Blick hat, und daß der ganze Text von Visionen bestimmt wird, muß man eine szenische Sprache finden, Bilder, die die poetische Kraft Trakls übersetzen. Die Psychologie tritt dabei in den Hintergrund, wie bei allen Texten von so großer Poesie; die Psychologie ist kleiner als die Poesie.

Hat Trakl es deshalb für Puppen geschrieben?

Ja, die Puppen dienen der Verfremdung. Die deutliche Distanz zwischen zwei Elementen, Körper und Stimme, die im Schauspieler sonst eine Einheit bilden, macht das Besondere aus. Die Puppe gibt die Möglichkeit, sich über die Gesetze des Gleichgewichts hinwegzusetzen. Ihre Grazie, wie Kleist sagt. Rilke schreibt in der vierten Duineser Elegie, ach, das Psychologietheater, das kann ich nicht mehr sehn. Bei Puppen sehe ich alles, das Holz, die Fäden, sie lügen nicht; und wenn ein Engel käme, mit ihnen zu spielen, das wäre ein Schauspiel! Ja, das wünsche ich mir von den Schauspielern: daß sie Engel und Puppen sind...

Nun arbeiten Sie aber mit Schauspielstudenten?

Ja, bis auf Kucera, der den Alten spielt, denn bei aller Stilisierung braucht dieses Stück, bei dem es ja auch um die Jugend geht, die es bei routinierten Schauspielern oft gar nicht mehr gibt.

Spielen sie — Puppen?

Sagen wir, sie spielen mit der Spanne zwischen Puppe und Mensch, fließender Bewegung und Erstarrung... so taucht manchmal die Seele in einer Puppe auf... und es gelingt, eine surreale Dimension zu gewinnen. Es ist ja alles ein Alptraum. Der Alte, der Junge, Blaubart, Elisabeth, sie alle haben einen Alptraum, und alle spiegeln sich in allen. Die Frauen — wir haben drei Elisabeths — sind manchmal Opfer, manchmal aber auch gewalttätig, genau wie Blaubart.

Was geschieht mit Elisabeth? Ihre Angst kippt plötzlich um?

Ja, sie ruft einen fremden Namen, Heinrich, Heinrich (eine Erinnerung an Gretchen!), und in diesem Moment kommt ein — imaginierter — Dritter in den Raum. Lacan sagt, die Liebe ist immer zu dritt...

...ist das Begehren des anderen...

Ja, und Trakl hat das ganz klar gesehen, als hätte er Freud total gelesen! Dieser Dritte macht Elisabeth geil, und Blaubart auch — der Name ihres Wunsches bringt sie zusammen. Man kann das natürlich auch anders lesen, mit einem Blick auf Trakls Biografie; dann erzählt das Fragment von Trakl und seiner Schwester, von ihrer verbotenen Liebe und der Sehnsucht nach einer möglichen...

Was treibt Blaubart?

Blaubart, als reifer, erwachsener Mann, hat das Problem, daß Symbole für ihn keine Geltung mehr haben. Er nimmt alles, was mit der Liebe zusammenhängt, beim Wort: Tod und Verwesung, daß Liebe tötet, wie so viele Dichter es gesagt haben, zum Beispiel Leopardi, oder die deutschen Romantiker.

Er verwechselt also Metapher und Wörtlichkeit?

Sagen wir, Metaphern funktionieren nicht für ihn. Wenn ihn die Lust in der Liebe, sich selbst und den anderen zu annulieren überkommt, dann tötet er wirklich.

Sie haben das Blaubart-Thema schon einmal früher bearbeitet, nach Tieck, im Teatro dell'Acqua.

Ja, damals haben wir uns im Teatro ganz besonders mit Märchen auseinandergesetzt. Wir haben Fragmente von Tieck verbunden mit dem Monolog eines Mannes, der sich im Blaubart-Märchen spiegelt, sich selbst in den verschiedenen Lebensabschnitten darin liest. Das Ganze bei Tieck ist ja auch eine schwierige Polemik gegen Fichtes Subjektivitätstheorie, das verstehen heute viele nicht mehr.

Wie kam es zur Gründung des Teatro dell'Acqua?

In Italien kann man eigentlich nur in zwei Städten Theater machen, Rom und Mailand. Man muß jemanden kennen oder in der Partei sein; in Italien gibt es keine Demokratie, das ist nur ein Name, es herrscht die Diktatur der Parteien.

Wie haben Sie es also angefangen?

Mein Bruder und ich, wir haben schon als Kinder Theater gemacht und während des Studiums (ich habe Philosophie studiert und Daniele Architektur). Wir sind — in den siebziger Jahren — viel herumgereist. Damals war gerade das Teatro d'Avanguardia stark, Living Theatre, Meredith Monk, der erste Bob Wilson, Grotowski, Barba etc. Da haben wir beschlossen, uns nicht in Rom oder Mailand zu verlieren, sondern nach Hause zu gehen, an den Gardasee. Mit unserem Geld und drei Räumen, die uns die Gemeinde in einer Kaserne zur Verfügung stellte, haben wir begonnen. Die Schauspieler haben wir selbst ausgebildet; wir haben ihnen den Unterricht in Mailand selbst bezalt.

Machen Sie jetzt auch noch etwas im Teatro dell'Acqua?

Nein, nicht selbst. Ich habe keine Zeit. Das Teatro gehört für mich zur Vergangenheit, es hatte viel mit meinem Bruder zu tun. Ich glaube, ich muß jetzt den Mut haben zu etwas Neuem — man darf nicht zu sehr an der Vergangenheit hängen.

Wenn Sie jetzt an größeren Häusern arbeiten, was ist da anders?

Im Teatro waren wir es gewöhnt, alles selbst zu machen. Jetzt habe ich manchmal Angst, daß nicht alles direkt in meiner Hand liegt. Der Kontakt zwischen allen war direkter, alles war überschaubar.

Sie haben einmal gesagt, daß Sie in Ihrer Inszenierung von Kleists „Käthchen von Heilbronn“ versucht hätten zu zeigen, wie Kleist sich mit einem Märchen vor der Welt rettet...

Ja, beim Käthchen waren wir vollkomen davon fasziniert, daß es sich um ein Märchen handelt, das auch viel mit den romantischen Märchen von Novalis und Tieck zu tun hat. Das Schöne ist, daß plötzlich herauskommt, daß Käthchen die Tochter des Kaisers ist — also etwas ganz Unerwartetes eintritt, wie ein Regen in der Wüste, ein Blitz in der Dunkelheit. Kleist hat das als Märchen geschrieben, es ist die andere Seite von Penthesilea. Ich mag den Gedanken sehr, daß plötzlich alles Tragische, alle Tragödien des Menschen verschwinden können, daß ein Märchen uns retten kann. In einem Augenblick. So ist ja manchmal die Liebe: mit einem Mal ist die Welt eine ganz andere.

Ist das auch wichtig, um sich, wie Sie einmal sagten, nicht von Ideologien blind und kaputt machen zu lassen?

Ja, das sind meine großen Themen. Einige Kritiker fanden das Käthchen „zu schön, wie immer“. Es ist ein Problem in Deutschland, daß alle eine solche Angst vor der Schönheit haben. Schönheit ist ein Mittel, um die Welt besser zu erkennen. Ich verstehe nicht, warum die Häßlichkeit besser oder moralischer sein soll als die Schönheit. Ich spreche nicht von der Schönheit von Modejournalen, sondern im Sinne Platons, den Neoplatonikern. Schönheit hat mit der Seele zu tun... Ich finde, die Ideologie hat uns, hat unsere Vision von der Welt unglaublich eng gemacht.

Was genau meinen Sie mit Ideologie?

Alle Versuche, die Welt in eine Hose zu zwängen. Die Welt ist größer als jede Hose. Wenn wir nicht die Welt anschauen, sondern die Hose, dann entgeht uns etwas Wesentliches. Das Theater muß mir nicht die Hose zeigen, sondern es soll mir die Augen öffnen. Sehe ich im Theater einen Baum, gehe ich hinaus und sage: ah, jetzt sehe ich die anderen Bäume. Oder dieser wichtige und fast unsagbare Satz „Ich liebe dich“, ein Satz, den wir auf Schokoladenherzen lesen und überall hören, der seine Bedeutung verliert — also wenn wir den im Theater hören — und das ist mein Traum —, dann soll es so sein, daß wir die Wahrheit dieser Wörter wie zum ersten Mal verstehen. Ich liebe zum Beispiel die große Form bei einem Schauspieler, weil er mir da etwas zeigt, was in der Realität nicht mehr möglich ist. Aber wenn ich sehe, daß meine eigenen beschränkten Probleme auf der Bühne reproduziert werden, nein, dann ärgere ich mich. Ich bin nicht so wichtig. Ich will etwas sehen, das größer, reicher, schöner ist als ich, eine andere Dimension. Die Häßlichkeit, die Gewalt gehören dazu — aber in einer Form. In Deutschland gibt es oft so eine Lust, in der Häßlichkeit zu wühlen.

Es soll also alles poetisch transformiert werden?

Natürlich! Heute morgen las ich in Hofmannsthals Buch der Freunde. Da zitiert er Schlegel über das deutsche Publikum; das deutsche Publikum wolle immer nur Inhalt! Und das stimmt! Hofmannsthal selbst sagt: die Deutschen hassen die Form so sehr, daß sie die Schauspieler am liebsten ohne Haut sähen. Das ist unglaublich, welche Rolle das auch heute noch spielt. Ich finde das reaktionär, es hat oft etwas Faschistisches, dieses Wühlen in Häßlichem, in Erde und Blut. Wenn ein Künstler etwas zeigen kann, dann ist das die Freiheit: die Welt freier zu sehen, offener, und das bedeutet auch: die Welt zu lieben, sie zu akzeptieren. Das Negative wie das Gute; wenn man alles ansieht, integriert, dann kann man wählen, sich für etwas entscheiden, das Schöne, den Frieden, und nicht den Krieg.

Finden Sie das Theater in Deutschland zu moralisch?

Ja. Weil es keine Zugehörigkeit der linken Intellektuellen zu einer großen Partei gibt, glauben viele, individuell ihre politische Haltung deutlich machen zu müssen. Das gerät dann oft zu einem „ich bin moraischer“ als ihr. Die Moral ist sehr wichtig, aber für das Theater ist das nicht immer gut.

Sie wollen demnächst in Berlin ein eigenes Stück inszenieren, mit dem Titel „Sommergeschwister“...

Ja, genau über dieses Thema!

Gorki setzt sich in „Sommergäste“ auch mit dem Thema der Ideologien auseinander. Er zeigt darin Intellektuelle, die im Sommer aufs Land fahren, die dort ihren Müll und Kehricht hinterlassen, aber keine Beziehung zu diesem Ort entwickeln.

Das ist lustig, das ist wirklich ganz nah. Es gibt einen Protagonisten — Udo Samel soll ihn spielen —, der alles ganz negativ sieht, aber so negativ, daß man merkt: da ist eigentlich eine ganz große Kraft, die das überwinden will.

Wird „Sommergeschwister“ auch eine Art Märchen sein?

Nun, es gibt märchenhafte Elemente darin, zum Beispiel wie man sich wirklich verständigt. Das ist auch ein Märchen! Wir reden, wir formulieren Ideen, wir sagen moralische Sätze — aber die wirkliche Verständigung, die läuft doch über etwas ganz anderes, dafür habe ich eigentlich keine Worte! Natürlich wird es kein realistisches Stück, die Transzendenz spielt eine Rolle darin. Wir machen einen großen Fehler, wenn wir das Unsichtbare vergessen. Die Toten sind für uns eine gute Möglichkeit, eine Beziehung zu dieser Transzendenz herzustellen, und damit auch zur Perfektion. Ich denke, die Toten sind perfekt geworden; der Tod macht uns perfekt. Durch den Tod meines Bruders bin ich all dem noch näher gekommen.