France forte: Mit einem „Franc fort“ gegen Frankfurt

Frankreichs neue Premierministerin Cresson redet dem Nationalindustrialismus das Wort/ In der wirtschaftspolitischen Praxis bleibt alles beim alten/ In der Folge der Rezession durch den Golfkrieg sind die Staatseinnahmen gesunken: Woher soll Cresson das Geld für die Industriepolitik nehmen?  ■ Aus Paris Alexander Smoltczyk

Ehre uns, Kindern der Industrie! /

Ehre, Ehre unser'm glücklich Werk!

/ Laßt uns, in Künsten siegreich über

die Rivalen / Hoffnung und Stolz des

Vaterlandes sein!“

So sangen es vor genau 170 Jahren die Wollspinner der Pariser Manufaktur Ternaux, um den anwesenden Dichter des „Gesangs der Industriellen“ zu erfreuen, den Monsieur Saint-Simon. Der träumte nämlich einen schönen Traum: Geleitet von streng rational handelnden Experten, den „Technokraten“, würden Kapital und Arbeit sich im Medium des gemeinsamen Produzierens von Reichtum befrieden, und die Nation würde dank Wissenschaft und Industrie wieder in ihren geschichtlichen Rang eingesetzt werden: „Alles für die Industrie — alles durch die Industrie!“ — so Saint-Simons Parole.

Die Regierungserklärung von Frankreichs neuer Premierministerin Edith Cresson in der vergangenen Woche geriet zu einem Hohelied auf Frankreichs industrielle Force de Frappe, wie es ein Saint-Simon nicht anders hätte dichten können. Da wurde von der Vermählung „der industriellen mit der finanziellen Kultur“ geschwärmt, wobei das neugefaßte Superministerium für Wirtschaft, Finanzen, Budget, Industrie, Tourismus, Exporte, etc. die Kupplerin abgibt; da wurde versprochen, die Zahl der Technokraten bis 1993 zu verdoppeln, um die Nation für den Binnenmarkt zu stärken; da wurden die Sozialpartner zu einer Qualifizierungsoffensive gemahnt.

Von Sozialismus oder Sozialdemokratie oder Solidarität war nicht die Rede, stattdessen sehr viel von Erfolg. So sei Frankreichs „Industrie die vierte in der Welt“ (die OECD würde eher Italien auf diesem Rang orten); und lobend wurde vermerkt, daß kein Land 1990 soviel in den USA investiert hat wie Frankreich. Früher wäre solch industrieller Eifer von einer Sozialistin als Kapitalflucht vaterlandsloser Spekulanten gegeißelt worden, aber... Auf alle Fälle müsse jetzt der Blick nach vorne, auf den Binnenmarkt 1993 gerichtet sein, weshalb auch die Errichtung eines europäischen Elektronik- Pools notwendig sei.

Neuer Elan?

Nun hat Präsident Mitterrand die Regierung Cresson nicht eingesetzt, um Frankreich zu reformieren, sondern um Wahlkampf zu machen. Ein „neuer Elan“ in der Mitte der Legislaturperiode sei von Nöten, um die Wahlen 1993 nicht zu verlieren. Doch wer gehofft hatte, Cresson würde ihrem Diskurs entsprechende Gesetzesvorschläge folgen lassen, wurde enttäuscht. Es blieb bei einem vagen Versprechen, die Militärausgaben zugunsten der industriepolitischen Aufrüstung zu senken (wie es Großbritannien, die USA und Deutschland bereits praktizieren). Ansonsten wie gehabt: Rigueur — Strenge, wie die französische Variante des Neoliberalismus sich nennt. Nur die Begründung fiel etwas lyrischer aus als bei Amtsvorgänger Michel Rocard: „Tugendhaft sein bedeutet nicht, keine Kühnheit zu zeigen. Wir werden ein starkes Frankreich (France forte) auf einem starken Franc (franc fort) aufbauen!“ Und weil in der Triade noch ein Teilchen fehlt, nämlich Frank-furt, europaweit der Inbegriff monetärer Orthodoxie, versprach Edith Cresson der aufmerksam lauschenden Börsenwelt Wohlverhalten: Die Abgabenquote werde stabilisiert und die Staatsausgaben „mit großer Wachsamkeit“ gehandhabt, um die Stabilität des Franc im EWS nicht zu gefährden.

Cressons Regierungserklärung stieß auf allgemeine Ernüchterung. Schockierend war nicht so sehr die Unfähigkeit der neuen Premierministerin, eine umfassende Vision der französischen Gesellschaft zu entwickeln — das ist letztendlich die Aufgabe Mitterrands. „Schockierend ist das völlige Fehlen eines präzisen und konkreten Engagements“, schrieb etwa der 'Le Monde‘-Kolumnist Jean-Marie Colombani am Wochenende. Nur die Kommunisten, auf deren Stimmen die Minderheitsregierung Cresson in Zukunft angewiesen sein könnte, schienen am neuen Nationalindustrialismus Gefallen und „Hoffnung“ zu finden.

Frankreichs Industrie hat sich noch nicht vom rezessionären Einbruch des Golfkriegs erholt. Seit Jahresbeginn stagnieren Produktion und Unternehmensinvestitionen. Obwohl der starke Franc den Export begünstigt, ist die Außenhandelsbilanz doppelt so defizitär wie 1988. Seit Januar gingen in Frankreichs Industrie 30.000 Arbeitsplätze verloren, die Arbeitslosenzahl von gegenwärtig 2,6 Millionen steigt seit August so schnell an wie seit 1988 nicht mehr. Michelin, Renault, Bull — viele der industriellen Brückenköpfe im Wirtschaftskrieg entlassen zur Zeit ihre Beschäftigten, obwohl sie mit staatlicher Hilfe aufgepäppelt wurden. Wo ist hier Raum für staatlichen Eingriff, wenn die Kassen leer sind?

Denn im Gefolge der Rezession sind die Staatseinnahmen gesunken. 30 Milliarden müssen aufgetrieben werden, um das geplante Defizit noch halten zu können. In der Sozialversicherung droht am Jahresende ein Loch von 24 Milliarden Francs — zu groß, als daß es durch die neue Quellensteuer CSG gedeckt werden könnte. Was tun? Die CSG aufstocken? Das würden die Kommunisten nicht mittragen. Die Beiträge erhöhen? Das würde nur die Pflichtversicherten treffen — eine noch unsozialere Maßnahme.

Gegen Japan

In den nächsten Wochen wird sich zeigen, welchen Spielraum das real existierende Europa einem Diskurs des freien Willens noch läßt, und ob der „neue Elan“ in Paris mehr ist als ein modischer Verbalschlenker zur Vorwahlzeit. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Premierministerin jedenfalls war eine symbolische: Der staatseigenen Elektronikfirma Bull soll ein bereits genehmigter Kapitalaustausch mit dem japanischen Gigakonzern NEC untersagt werden. Bull wollte — mit dem Segen des bisherigen Industrieministers — über NEC an strategisches Know- how herankommen, um Marktanteile und Beschäftigung zu retten... — aber mit dem japanischen Teufel werden keine Geschäfte gemacht: „Laßt uns, in Künsten siegreich über die Rivalen / Hoffnung und Stolz des Vaterlandes sein!“