„The Grand Bargain“ oder: Die SU im Angebot

An der Harvard-Universität basteln amerikanische und sowjetische Ökonomen an einem neuen Plan für die Transformation des Sowjetreichs in eine Marktwirtschaft/ Der Streit um Westhilfe an die SU hat in den USA erst begonnen  ■ Aus Cambridge Rolf Paasch

Die letzten zwölf Nächte — zuerst in Moskau, dann hier in Cambridge — hat Grigori Jawlinski kaum geschlafen. So sieht der Jelzin-Berater und Mitautor des im letzten Jahr verworfenen Schatalin-Plans zur Marktreform in 500 Tagen denn auch aus. Mit tiefen Rändern unter den Augen tritt er unter der Fahne der altehrwürdigen Harvard-Universität in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts ans Rednerpult, um seine neuesten volkswirtschaftlichen Ideen vorzustellen.

Jawlinski spricht vom totalen Zusammenbruch aller Systeme der Sowjetgesellschaft, der politischen wie der ökonomischen. „Niemand kann im Augenblick die Macht an sich reißen, weil die viel zu heiß ist.“ Doch gerade deswegen gibt sich das 39jährige Wunderkind der sowjetischen Volkswirtschaftslehre optimistisch. Gerade in dem resultierenden Machtvakuum sieht Jawlinski den Zwang zu einem Konsens zwischen Konservativen und Reformern, der jetzt endlich auch den Weg zu einer radikalen Wirtschaftsreform eröffnen könnte. Und während im Auditorium der „J.F. Kennedy School of Government“ rund 300 Studenten und Professoren der Elite-Universität andächtig den Worten Jawlinskis folgen, basteln im Hinterzimmer ein Dutzend amerikanischer und sowjetischer Volkswirtschaftler an der nächsten Schocktherapie für das auseinanderfallende Sowjetreich.

Die Kontakte zwischen Graham Allison, dem Ex-Dekan der John- F.-Kennedy-Schule, und den Moskauer Reformern im Rahmen des Universitätsprojektes zur „Stärkung demokratischer Institutionen“ reichen 18 Monate zurück. Doch jetzt muß es schnell gehen. Gorbatschow hat in dieser Woche höchstpersönlich nach westlicher Finanzhilfe verlangt und Grigori Jawlinski vor der Abreise seines unabhängigen Ökonomen-Teams in die USA noch seinen Segen mitgegeben. Binnen weniger Tage soll hier in Harvard mit amerikanischem Know-how ein neuer Plan für die marktwirtschaftliche Reform in der Sowjetunion zusammengestellt werden. Der Titel lautet ebenso vielversprechend wie vieldeutig: „The Grand Bargain“ — als wäre die Sowjetunion momentan im Angebot zu haben.

Reformen schafft die SU nicht aus eigener Kraft

Vor einem Jahr, so Jawlinski, hätte die Sowjetunion den von ihm mitentworfenen Schatalin-Plan noch aus eigener Kraft durchführen können. Doch Gorbatschow lehnte damals ab — und heute seien solch drastische Reformschritte angesichts von Produktionsverfall, Inflation, steigender Arbeitslosigkeit und einer Haushalts-Explosion wohl nur noch mit westlicher Hilfe zu realisieren.

Um diese westliche Hilfe und ihre Verknüpfung mit der Durchführung demokratischer Reformen in der Sowjetunion geht es denn auch den amerikanischen Mitgliedern der „Working Group“. Zu ihnen gehören so hochangesehene Experten im Geschäft der internationalen Wirtschaftsberatung wie der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Stanley Fischer, George Bushs ehemalige Sowjetberater Robert Blackwill sowie der Harvard-Professor Jeffrey Sachs. Sachs, der Architekt der polnischen Wirtschaftsreformen, schlägt vor, der Sowjetunion fünf Jahre lang jährlich 30 Milliarden Dollar an Hilfen für den Fall in Aussicht zu stellen, daß eine neue demokratische Regierung radikale Marktreformen durchführt und sich in einer Reihe von Feldern, vor allem bei der Abrüstung, gegenüber dem Westen kooperationsbereit zeigt.

Zu den konkreten Bedingungen für westliche Hilfszahlungen befragt, vermochte Jawlinski seinen Kritikern allerdings nur mit Allgemeinplätzen zu antworten. Wie genau der demokratische Fortschritt gemessen, die marktwirtschaftliche Reform geprüft und der Fluß westlicher Gelder in die Hände der sowjetischen Nomenklatura verhindert werden könnte, darüber scheint sich die „Working Group“ bisher nur wenig Gedanken gemacht zu haben.

Die Bittsteller bleiben hartnäckig

So stehen denn auch die traditionellen Sowjetexperten vom „Zentrum für Rußlandforschung“ an der Harvard-Universität den Plänen der Kollegen von der John-F.-Kennedy- Schule recht kritisch gegenüber. Solange in der Sowjetunion niemand die Kontrolle habe, so glaubt der Stellvertretende Leiter des Rußland- Zentrums, Marshall Goldman, sei westliche Hilfe völlig sinnlos.

Aber auch in der amerikanischen Politik ist man sich über die Notwendigkeit und Effektivität westlicher Hilfen an die Sowjets uneins. Der Kongreß ist in der Frage der Bewilligung eines Getreidekredits von 1,5 Milliarden Dollar gespalten. Und bei seiner Stippvisite in Washington wurde Jawlinski im US-Außenministerium unmißverständlich klargemacht, daß die Milliarden Dollar zwar in den Köpfen sowjetischer Reformer existierten, nicht aber im hochdefizitären US-Haushalt.

Doch so leicht lassen sich die Bittsteller aus dem Osten nicht abwimmeln. In dieser Woche hat sich in Washington Gorbatschow-Berater Jewgenij Primakow im Weißen Haus angesagt, um George Bush über Gorbatschows neueste Pläne für eine Wirtschaftsreform zu informieren. „Schade, daß die Sowjetunion besser Pläne als Güter produzieren kann“, sagt Harvard-Professor Marshall Goldman, der hier bereits Gorbatschows achten Plan zu einer Wirtschaftsreform zählt.

Wie nicht anders zu erwarten, streiten sich derzeit auch die Zeitungskommentatoren darüber, ob Finanzhilfen an die Sowjetunion nur Geld in ein Faß ohne Boden oder das einzige Mittel sind, den Westen vor den Folgen einer Implosion des Sowjetreiches zu schützen. Während konservative Kolumnisten die Einschätzung der Sowjetstudie des Internationalen Währungsfonds (IWF) teilen, daß für großangelegte Finanzhilfen noch ein umfassendes Reformprogramm fehle, haben liberale Kritiker die jetzt in Harvard ausgeheckte Idee des „Grand Bargain“ willig aufgenommen. Wenn der Welt die Rettung Kuwaits 100 Milliarden Dollar wert sei, so der Kolumnist Russell Baker in der 'New York Times‘, dann sollte ihr die Rettung der Perestroika mindestens ebensoviel bedeuten. Und im Vergleich zu den 95 Milliarden Dollar für das nächste Kampfflugzeug der US- Luftwaffe, so der Politikprofessor Ronald Steel, sei die von Gorbatschow vorgeschlagene Rettung der Sowjetunion ausgesprochen preiswert. Der Westen, so Jawlinski vor den Sowjetexperten an der Harvard- Universität, werde sich die Frage einer Aufnahme der Sowjetunion in die globale Gemeinschaft früher oder später stellen müssen. „Je eher, desto billiger.“