: Tanker SPD: Umrüsten bei halber Fahrt voraus
■ Ursula Feist, Leiterin der Abteilung Wahlforschung beim Infas-Institut Hamburg, analysiert für die taz die Wählerstruktur der Sozialdemokraten in Ost und West/ Die schwierige Zukunft der SPD/ Der Osten wird noch lange nicht rot
Hamburg (taz) — In diesen Tagen besiegelt die SPD ihren Generationswechsel. Björn Engholm nimmt als neuer Bundesvorsitzender das Heft in die Hand, entschlossen, mit einer effizienteren Organisationsstruktur nach innen bei gleichzeitiger Öffnung zu bürgerlich-konservativen Wählerschichten nach außen seiner Partei eine Roßkur zu verordnen. Ziel: die Mehrheits- und Regierungsfähigkeit in Bonn. So rar Machtwechsel durch Wahlen in der westdeutschen Geschichte auch sein mögen, die „Enkel“ schafften eine Art von föderativem Amts- und Generationenwechsel in den letzten Jahren gleich fünfmal: an der Saar (1985), in Schleswig-Holstein (1988), in Niedersachsen (1990), kürzlich in Hessen und Rheinland- Pfalz (1991). Während die Union über die Richtlinien der nationalen Politik bestimmt, die SPD auf dem Weg zur Regionalpartei?
Schwer demoralisiert durch die Wahlen in der DDR und den Ausgang der Bundestagswahl ist die SPD nun angesichts der Regierungsschwäche in Bonn und ihrer regionalen Erfolge guter Hoffnung. Der schnelle Stimmungsumschwung im ganzen Land verdrängt die Aufarbeitung der eigenen Krise.
Die Herausforderungen, vor denen die SPD steht, sind heute nicht geringer als vor dreißig Jahren, im Gegenteil. Damals konzentrierte sich das westdeutsche Parteiensystem übersichtlich auf zwei große Volksparteien mit der FDP in der Mitte — ein Prozeß, begleitet von politischer Annäherung in den Parteiprogrammen und sozialstruktureller Angleichung im breiten Strom der Mittelschichten. Die soziale und kulturelle Homogenisierung der Gesellschaft produzierte einen breiten politischen Konsens über die Grundfragen der Politik. Seit Mitte der 70er Jahre hat sich diese Entwicklung weitgehend ins Gegenteil verkehrt. Seither hat die SPD bei Bundestagswahlen ein ums andere Mal Wählerterrain eingebüßt. Das Parteiensystem differenziert sich wieder aus, und die Mehrheitsfähigkeit der SPD im Bund rückte am 2. Dezember 1990 weiter denn je in die Ferne.
Linke Volkspartei in der Krise
Als linke Volkspartei war die SPD von der gesellschaftlichen Modernisierung, die sie selbst gefördert hatte, überfordert worden. Denn die Folgen — eine Ausfächerung der Sozialstruktur in eine Vielzahl von Statusgrupen mit konkurrierenden Interessen- und Wertvorstellungen, die Abschwächung der politischen Milieubindungen durch die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung — standen dem SPD-Politikverständnis und ihrem Interessenvertretungsanspruch diametral entgegen. Dem alten Parteienkartell zugerechnet und partizipationsfeindlich in ihrem Stil, dabei der alten, wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungs- und Industriepolitik verhaftet, vermochten die Sozialdemokraten die Grünen als linke Konkurrenz nicht zu verhindern. Die konnten sich als neue Milieupartei etablieren. Mit der Öffnung zu den Ökologen stoppte die SPD dann zwar die Abwanderung und förderte statt dessen den rot-grünen Wähleraustausch, riskierte aber zusätzliche Wählerverluste im Arbeiter- und Gewerkschaftssektor, auch in den aufstiegsorientierten, leistungsbewußten Mittelschichten. Seit 1972 ist der SPD-Anteil im traditionellen Arbeiterbereich um 20 Punkte auf 47 Prozent gefallen, unter gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern um 7 Punkte auf 46 Prozent, in der neuen Mittelschicht um 23 Punkte auf 30 Prozent.
Zu ihren strukturellen Schwierigkeiten gesellte sich im Wahljahr 1990 die Unfähigkeit der SPD, die alte Kompetenz in Fragen der Deutschlandpolitik, für die einst Willy Brandt gestanden hatte, wieder aufleben zu lassen. Die Folge: eine emotionale Kluft zwischen der SPD und den DDR-Wählern. Der Fremdkörper DDR hat die Notwendigkeit der Wählerintegration für die SPD noch verstärkt. Was trotz nachlassender Bindung und schrumpfenden Gewichts nach wie vor die SPD in Westdeutschland stützt und die SPD-Hochburgen ausmacht, die Arbeiterschaft in den Industrieregionen, stellt im Osten kein überdurchschnittliches Reservoir dar. Bereits beim ersten freien Wahlgang in der DDR, bei den Wahlen zur Volkskammer 1990, votierten die ArbeiterInnen mehrheitlich für die radikale Wende, das heißt für die „Allianz“, den Zusammenschluß von CDU, DSU und DA. Bei der Bundestagswahl im Dezember hielten sie es ebenso — trotz bereits spürbarer dramatischer Folgen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Wachsende Unzufriedenheit war offensichtlich im Lager der Bonner Regierungspartei aufgefangen worden. Auch bei den einfachen Angestellten erreichte die SPD im Osten nur durchschnittliche Zustimmung, deutlich weniger als im Westen, auch weniger, als der Ost-CDU zuteil wurde. Ein ähnlich schwach ausgeprägtes Profil hat die Ost- im Vergleich zur West-SPD, analysiert man das Wahlergebnis nach Alter und Geschlecht. Die größere Neigung jüngerer Menschen im Westen, insbesondere jüngerer Frauen, die SPD zu wählen, sozusagen die zweite Hoffnung der Sozialdemokraten auf den Generationenwechsel, findet in den neuen Bundesländern keinerlei Pendant. Auch der Stadt-Land-Gegensatz, der in der alten Bundesrepublik die SPD-Organisationsarbeit überschaubar und planbar machte, setzt sich in der Ex-DDR nicht in Wählerstimmen für die SPD um.
Die Basis: sozial unübersichtlich
So kennzeichnen fehlende soziale Schwerpunkte die gegenwärtigen SPD-Chancen in den neuen Ländern, und mangelnde Übereinstimmung in der sozialen Basis der Partei in Ost und West erschwert eine einheitliche in sich schlüssige Strategie. Der sozialen Struktur der Wählerinnen und Wähler nach sind die Ost- und West-SPD zwei verschiedene Parteien — aber auch was ihre Mitglieder anbetrifft. Den gut 92.000 Westmitgliedern stehen, anfangs auf 100.000 überschätzt, nur 22.000 Ostmitglieder gegenüber, nicht alle ohne Schatten aus der Vergangenheit. Keine gute Voraussetzung dafür, daß die West-SPD von ihrer altbundesrepublikanischen Fixierung abläßt und ihrem latent wirtschafts- chauvinistischen Drall abmildert, wenn es darum geht, nach der staatlichen die soziale Einheit zu gestalten; auch keine guten Voraussetzungen dafür, daß die Ost-SPD als artikulationsfähiger, integrer Bestandteil der Organisation bei der Überbrückung der gegenseitigen Entfremdung angemessen Gehör findet.
Dahinter schimmert Enttäuschung durch, die die DDR mit ihrem Untergehen der SPD bereitet hat. Der pervertierte SED-Staat hat das Politikkonzept des Sozialismus real — und, wie viele meinen, auch ideell — zerstört, linke Gestaltungspolitik für geraume Zeit diskreditiert. Da fällt es der Partei schwer, statt der Verteidigung des Status quo der westdeutschen Demokratie eine ganzheitliche nationale Identität zu entwickeln. Den WählerInnen verübelt die SPD zudem ihre augenscheinlich materielle Gesinnung, von der sie sich 1990 bei vier Wahlgängen (Volkskammer, Kommunen, Landtag, Bundestag) leiten ließen, gegen die SPD und ihre Traditionslinien und für die D-Mark, den Wohlstand, für einen konservativen Modernisierungskurs zu stimmen.
So sehr das Votum für die Volkskammer Züge eines Referendums für die rasche Einheit trug — und dabei oft als pure Themenwahl abgehandelt wurde —, so gut wäre die SPD beraten, auf die strukturellen Komponenten zu achten, die sich im Resultat niederschlugen und nachträglich den Wahlgang als „critical election“, als Systemwahl mit längerfristiger Dominanz der Kräfteverhältnisse erscheinen lassen.
Trotz der geringen Parteibindung im Osten, die für mehr Wählerflexibilität sorgen könnte, blieben die Walergebnisse auf dem Gebiet der DDR über vier Wahlgänge relativ stabil, geprägt von einem starken und fortdauernden Nord-Süd-Gefälle von SPD/PDS zu CDU/DSU/FDP. Historische Traditionslinien wurden dabei — mit Ausnahme von Berlin und Brandenburg — durchkreuzt, wie übrigens schon in der Weimarer Zeit, als sich das „rote“ Sachsen und Thüringen nicht als übermäßig resistent gegen die Anziehung der Nazi- Partei erwiesen. Das politische Nord-Süd-Gefälle trägt Züge eines alten DDR-Konflikts: zwischen dem vom SED-Staat bevorzugten Zentrum Berlin mit seiner Umgebung sowie der Ostseeküste und der Peripherie, den industriell ausgebeuteten und ökologisch heruntergewirtschafteten Sachsen und Thüringen. Hier war das Votum am radikalsten antisozialistisch und antizentralistisch und knüpfte an die alten Emotionen gegen den Preußenstaat an.
Die Wahlerfolge von CDU und PDS lassen sich zudem auch durch Strukturen des Berufsstatus erklären. ArbeiterInnen votierten zur raschen Überwindung ihrer Misere für die Parteien des drastischen und schnellen gesellschaftlichen Strukturwandels, für jene Parteien also, die für eine Angleichung an die BRD einstanden. Die Position der SPD blieb in diesem Zusammenhang undeutlich, während die PDS die privilegierten Beschäftigten in der Partei- und Staatsbürokratie, die für den Status quo eintraten, hinter sich brachte.
Schließlich schlugen sich auch institutionelle Faktoren im Wahlergebnis nieder: Die Blockparteien mit ihren Organisationsnetzen waren durchweg erfolgreicher als neu gegründete Parteien oder die Kräfte der Bügerbewegungen, etwa das Neue Forum oder Demokratie Jetzt. Angesichts dieser Strukturmerkmale ist nicht davon auszugehen, daß das künftige Parteiensystem pures Abbild des alten westdeutschen sein wird. Es wird komplexer sein, auf der linken wie der rechten Seite ausdifferenziert, und nicht bloß zwei große Wählerblöcke kennen. Insbesondere die SPD, heute auf Bundesebene nur noch Volkspartei mittleren Formats, muß sich auf eine dauerhafte Konkurrenz von links einstellen, in der Zange zwischen Grünen/ Bürgerbewegungen und PDS und stets auch in der Gefahr, Wähler der marginalisierten Unterschichten nach rechts zu verlieren, wenn sich die soziale Krise in der Ex-DDR verschärft und das die deutsche Zweiklassengesellschaft verfestigt.
Es wird mehr als nur ein Generationenwechsel nötig sein, damit sich die SPD Gestaltungsmöglichkeiten über ihr regionales Profil in der Länderkammer hinaus eröffnet.
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