Spannungen im Vielvölkerstaat sind noch lange nicht zu Ende

■ Lange Zeit konnte die Zentralregierung die Opposition gegeneinander ausspielen

Äthiopien ist in Afrika ein Sonderfall. Als einziger Staat des Kontinentes entstand Äthiopien nicht durch die koloniale Grenzziehung seitens der Europäer. Seine heutigen Grenzen erhielt es vielmehr durch die Eroberungsfeldzüge des abessinischen Fürsten Menelik II., der 1889 den Thron des äthiopischen Kaiserreiches bestieg.

Im Wettlauf mit den Europäern dehnte er den Machtbereich des bisher auf die Völker der Amharen und Tigray auf dem abessinischen Hochland beschränkten Reiches nach Süden, Osten und Westen aus und unterwarf die Oromo- und Somali-Völker, welche nie zuvor von Addis Abeba beherrscht worden waren. Meneliks Truppen standen den europäischen bei ihren Feldzügen an Grausamkeit nicht nach.

So wurde etwa die Hälfte des äthiopischen Territoriums erst um die Jahrhundertwende dem äthiopischen Staat einverleibt. Darin liegt ein Grund für den bewaffneten Widerstand vieler Völker gegen die Zentralmacht in Addis Abeba. Eritrea hingegen wurde auch unter Menelik kein integraler Bestandteil Äthiopiens. Vielmehr erkannte der Kaiser die italienische Herrschaft über dieses Küstengebiet an.

Keine neue Konstellation durch Machtwechsel 1974

Somit entsteht der äthiopische Nationalstaat in seiner heutigen Gestalt ohne Eritrea. In ihm stellen die koptisch-christlichen Amharen, deren Kaiser ihre Herkunft auf König Salomon zurückführen und sich in Abgrenzung von den Juden als das „auserwählte Volk Gottes“ begreifen, die staatstragende Kraft. Das andere Hochlandvolk der Tigrays, vor 3.000 Jahren Gründer des Axum- Reiches, sah sich von der Macht ausgeschlossen. Diese Konstellation änderte sich auch nach der Revolution von 1974 und der Installierung eines sich marxistisch-lenistisch nennenden Regimes nicht wesentlich.

Während die EPLF-Guerilla in Eritrea hauptsächlich die völkerrechtswidrige Annexion durch Äthiopien 1962 rückgänigig machen und einen eigenen Staat bilden will, begreifen sich die Bewegung der Tigrays (TPLF) als Anführer einer breiten Rebellion gegen die amharische Vorherrschaft in Äthiopien. Die Oromos und Westsomalis hingegen betrachten die Tigrays als zweite Komponente der abessinischen Fremdherrschaft. Walter Michler

„Irritationen“ zwischen Tigrays und Oromos

Dieser Gegensatz zwischen den Oromos, die mit 20 bis 25 Millionen Einwohnern etwa die Hälfte der äthiopischen Bevölkerung stellen, und den nördlichen Völkern der Amharen, Tigrays und Eritreer, die jeweils nur etwa vier Millionen Menschen umfassen, könnte zur ersten Bewährungsprobe für ein neues Äthiopien werden.

„Die Oromos sind heute militärisch schwächer als die Eritreer und Tigrays“, sagt Gunnar Hasselblatt, Oromo-Experte und Mitarbeiter des Berliner Missionswerkes. „Sie sind aber das eigentliche große Potential, um das sich bis zum heutigen Tag die abessinischen Völker — Tigrays und Amharen — streiten.“

Unter Mengistu wurden die Oromos bevorzugt von der äthiopischen Armee zwangsrekrutiert und zum Kampf gegen Eritreer und Tigrays eingesetzt. Mit dieser Politik, eine Völkerschaft gegen die andere auszuspielen, verhinderte die Zentralregierung lange ein Bündnis zwischen den verschiedenen Oppositionsgruppen, obwohl seit mehreren Jahrzehnten eine „Oromo Liberation Front“ (OLF) im Süden und Westen Äthiopiens aktiv ist.

Das Verhältnis zwischen der Guerilla Tigrays (TPLF) und der OLF wurde Anfang April 1991 strapaziert, als TPLF-Einheiten über den Blauen Nil nach Süden zogen: „Die TPLF begnügt sich nicht mit der Befreiung von Tigray, das ja ein karges Land in den Bergen ist. Die Tigrays zielen auf das grüne, fruchtbare Oromo-Land und wollen dort an der Macht beteiligt sein. Sie versuchen, eine eigene Administration zu errichten und werden von den Oromos als Besatzungsmacht empfunden. Und das ist natürlich eine Irritation, die bei den Verhandlungen in London zur Sprache kommen wird“.

Ebenfalls bei den Verhandlungen zur Sprache kommen wird die Forderung der Oromo nach Ausübung der eigenen Sprache sowie der Einrichtung eigener Schulen — ein Recht, das sie im bisherigen amharisch dominierten Äthiopien nicht besaßen. D.J.