Dauernde Schieflage

■ Zeichnungen und Tagebuchblätter von Heinz Emigholz in der Kunsthalle Bremerhaven / Filmpremiere „Der zynische Körper“

Die Basis des Make-up liegt ziemlich tief unter der HautL.Scheschonka

Der Schauspieler Hanns Zischler aus Wim Wenders legendärem Road Movie „Im Laufe der Zeit“ eröffnete am Sonntagvormittag in der Bremerhavener Kunsthalle die Ausstellung eines Freundes:

hier bitte die

vielen Leute

Unter dem Titel „Die Erschöpfung (Enzyklopädie)“ zeigt die Kunsthalle Zeichnungen und Tagebuch-Blätter des Filmemachers, Autors und Künstlers Heinz Emigholz. „Zum letzten

mal Erzählkino“ — Zischlers programmatischer Hinweis gilt nicht nur für Emigholz' neuen Film „Der zynische Körper“, der am selben Tag im Bremerhavener Kino „Aladin“ seine norddeutsche Vor-Premiere feierte.

Das Aufkündigen der Erzählung gilt auch für seine zeichnerischen Arbeiten. Wer die fotografischen Reproduktionen als Erzähl-Zusammenhang lesen will, ist schon verloren. „Mittlere Katastrophe“ heißt eine Bildwand aus 54 penibel symmetrisch angeordneten Zeichnungen. Was wie ein aufgeblättertes Comic-Heft anmutet und sofort nach einer Geschichte suchen läßt, ist ein Verwirrspiel mit Perspektivwechseln, mit geometrischen und realen Figuren, Wörtern, Sätzen und Mustern, die sich überlagern und den Blick des Betrachters zerstreuen.

Das Arbeitsgerät von Heinz Emigholz ist ein Variograph, ein Präzisionsinstrument für technisches Zeichnen, dessen gleichmäßiger Tintenfluß den Bildern etwas Schematisch-Kühles gibt, es sind Bilder ohne Schatten. Die Bilder, sagt jemand neben mir, sprächen von der Unfähigkeit zur Kommunikation, Menschen sehen in verschiedene Richtungen und nehmen voneinander keine Notiz.

Die Tagebuchblätter, 75 kleine Hefte, hat Emigholz zwischen 1974 und 1989 eng beschrieben und beklebt. Sie hängen an den Wänden der Kunsthalle in kleinen Stapeln zwischen Klemmzangen gepreßt. Einige sind aufgeblättert — auf transparente Folien reproduziert und hinter Glas gelegt. Schwarze Balken auf einer zwischengesetzten Glasschicht decken Teile der Notizen ab. Wer Geheimnisse entdecken will, muß den Zusammenhang entziffern und sich einlesen. In den aufgeschlagenen Tagebuch-Seiten finden sich Zeichnungen, Ideen- Skizzen für Drehbücher, Zeitungs-Fotos, Artikel, Buchtitel, eigene Texte. Die Ordnung des

Emigholz-Freund ZischlerL. Scheschonka

Sammelsuriums entsteht im selektiven Blick des Sammlers, der sich darin ein (fiktives) Selbstportrait setzt. Ein ins Tagebuch geklebtes Zitat von Genet charakterisiert das Verfahren: „Seltsamer Plan. Sich zu träumen, diesen Traum greifbar zu machen, um dann wieder zum Traum zu werden in anderen Menschen.“

Genets Satz hätte das Motto zu Heinz Emigholz Film „Der zynische Körper“ abgeben können. Nach zwanzig Jahren experimenteller Filmarbeit hat der 42jährige als Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann innerhalb von vier Jahren seinen zweiten abendfüllenden Film hergestellt. „Der zynische Körper“ ist meisterhaft fotografiert, er zeigt Bilder — farbig und schwarz-weiß — von außerordentlich suggestiver Kraft, und er arbeitet ironisch-verspielt mit Erzählelementen. Eine kleine metropolitane Künstler-Clique ist mit dem Sterben und dem Tod ihres Freundes, des Lektors Roy konfrontiert. Während Roy körperlich zerfällt, während seine Erschöpfung zunimmt, rekonstruieren die fünf Zurückbleiben den anhand seiner Tagebücher

Hier bitte

den Mann mit

Bildern

und Zeichnungen ihre gemeinsame Vergangenheit. Emigholz erzählt keine moralische Geschichte (etwa, wie ein Erbe zerpflückt wird), er wertet nicht, aber der wortwörtlich schräge Blick der Kamera versetzt Räume und Personen in eine dauernde Schieflage. Das ist kein manierierter Neo-Expressionismus, sondern eine Irritation, die den Blick für die Schönheit der Bilder, für die schwarz-weiß gefilmten Stadt- und Naturlandschaften schärft. Neben dem ruhigen Fluß der Bilder läuft ein Sprachstrom, Kalauer, Wortspiele, tiefschürfende Fragen. „Der zynische Körper“ ist ein filmischer Essay, er ist Literatur, Fotografie, Malerei. So lakonisch, so leicht, so komisch und so traurig zugleich sein zu können, hätte ich dem Geschichten-Erzähler Woody Allen zugetraut, aber kaum einem deutschen Filmemacher, der das Erzählkino für tot erklärt, um unendliche Geschichten in den Gesichtern seiner Personen zu entdecken. „Die Liebe“, sagt Emigholz, „liest in den Knochen“.

Hans Happel

Heinz Emigholz, Die Erschöpfung (Enzyklopädie) — eine Werkschau Kunsthalle Bhv., 26.5. — 23.6.