Vom Cabinet- zum Imperialformat

■ „Bilder für Jedermann“ — eine Ausstellung in Dortmund

Was bewegt Menschen eigentlich, sich mit Bildern zu umgeben? Mancher Blick in die Besenkammer der Kunst läßt diese Frage schnell aufkommen. Feen, Engel und wackere Krieger zählten vor hundert Jahren als Figuren auf Wandbilddrucken zu den Dauergästen in den Wohnungen unserer Vorfahren: Produkte der damaligen Traumfabriken. Ihr für die Gegenwart berechneter Zweck macht sie für heutige Augen interessanter, als sie es jemals waren. Die Drucke erzählen von den Kollektivphantasien des 19. und frühen 20.Jahrhunderts, und wer ihnen zuschaut, wird die Geschichte der Moderne besser verstehen lernen. Eine Ausstellung im Dortmunder Museum für Kunst- und Kulturgeschichte tapeziert die Wände des Hauses mit Hunderten dieser ausgestorbenen Spezies des Wandschmucks.

Heutzutage zieren sie, häufig aufwendig gerahmt, zumeist Flohmarktstände. Am Anfang ihrer Geschichte steht allerdings das volksaufklärerische Projekt „ästhetischer Erziehung“, das von den damals noch jungen Kunstvereinen vorangetrieben wurde. Um junge KünstlerInnen zu fördern, reproduzierten sie deren Ölgemälde und vertrieben die Stahlstiche oder Lithographien als Jahresgaben. Kunstverlage begannen, Mappenwerke mit berühmten Gemälden großer Museen herauszugeben. Nicht nur in der Literatur entstand ein bürgerlicher Bildungskanon. Leonardos Abendmahl-Fresko, die Sixtinische Madonna, seit ihrer Entstehung häufig reproduziert, erlebten eine Renaissance in massenhafter Auflage. In Dortmund verheißt der Abschnitt „Vom Original zum Druck“ allerdings zuviel, wenn er die Rezeptionsgeschichte des Abendmahls in der Wandbildkultur zu geben verspricht. Das Original blieb in Mailand und selbst auf einen die originalen Proportionen wiedergebenden Nachdruck wurde verzichtet. Trotzdem erfreut die Vielfalt der Bearbeitungen, die sich zumeist eng an das Vorbild anlehnen und mit geschickt das quer-ob-longe Originalformat den gewöhnlicheren Papiermaßen anpassen.

Mit der Wiedergabe sogenannter Meisterwerke begnügte sich das Wandschmuckmedium nicht. Bildtraditionen aus der Genrekunst hatten das Feld bereitet. Aus diesem Fundus gestaltete die europäische Kunstindustrie des 19.Jahrhunderts ihren Motivschatz und baute ihn aus. In den ersten Jahrzehnten dominierten patriotische Themen, daneben waren religiöse Bilder beliebt. Statt ästhetischer Bildung förderten die Drucke die moralische und politische Erziehung, die bis in Details ging: Blattgrößen wurden unterschieden in Cabinet-, Royal- und Imperialformat. Wände voller Heiliger und Christusköpfe, mit unveränderlicher Mimik Inbrunst vorstellend; Rührszenen mit um ihre toten und hungernden Kinder weinenden Müttern; Arm-aber-glücklich-Bilder (im Eisenbahnabteil vierter Klasse); badende Nymphen; „Krieger“ und Kaiser; sie statteten Wohnungen und Behausungen quer durch die sozialen Klassen aus, unterschieden nicht in der Motivwahl, sondern im technischen Aufwand des Drucks und in der Rahmung. Ein Evergreen das Bild des Schutzengels, der spielende Kinder vor dem Sturz über den Abgrund behütet. Eine „sensationelle Neuheit“ (Verlagswerbung 1916) präsentiert in Ovalrahmen vier nackte, mit Tschako, Holzgewehr und Spielzeugreiter bewehrte Knaben und nennt sich Lieb Vaterland magst ruhig sein: Das Proletariat in Deutschland frönte dem gleichen Heldenkult wie das Bürgertum. Wie tröstlich, daß die Kunstblattvertreter 1915 berichteten, daß vor dem Krieg zu 70 Prozent Patrioten und zu 30 Prozent Genre verlangt wurden, nun aber sei es umgekehrt. Je beliebter die Wandbilddrucke, desto größer wurde das angesprochene Publikum. Ende des 19.Jahrhunderts fabrizierten allein in Berlin etwa 200 Kunstanstalten. Leere Wände erfreuen nur AsketInnen. Auf die Tapete folgt ein Kalenderblatt im Wechselrahmen und nach einigen zwischen Kindheit und Jugend die Posterwand im „Jugendzimmer“. Bis zum heutigen Tag gehört das Bild an der Wand zum Wohnen wie eine Topfpflanze.

Schonungslos setzte die Dortmunder Ausstellung das Publikum den Fossilien verlorengegangenen Geschmacks aus. In einem den Gegenständen angemessenen Ambiente — das Museum drapierte die Kabinette mit salonartigen Vorhängen und rekonstruiert aus dem eigenen Fundus typische Raumsituationen — kommt die nostalgische Lust auf ihre Kosten. Gelungen vor allem ist die Nachahmung eines Bilderladens, in dem neben technischen Unterrichtungen Wühlgestelle aus dem Postershop zum Blättern einladen und die Zahl der Exponate vervielfachen.

Der Schau, welche nach einer Wanderung durch die BRD in Dortmund zum letzten Mal zu sehen ist, liegt eine Arbeit Christa Pieskes zugrunde. Ihr gelang ein Handbuch, das kaum eine Information zur Technik- und Funktionsgeschichte sowie zur Kunstsoziologie ausläßt. Manche Abschnitte gerieten leider zu summarisch, etwa der über staatliche Zensur, auch die Ikonographie kommt zu kurz, auf Bildanalysen verzichtet die Autorin. Kunsttheoretische Fragen werden nur gestreift, eine verschenkte Gelgenheit, die Lücke zwischen Kunstwissenschaft und Kulturgeschichte zu überbrücken. Mit seinem umfangreichen wissenschaftlichen Apparat empfiehlt sich das Buch daher vor allem der Forschung und SammlerInnen. Christioph Danelzik

Bilder für Jedermann. Populäre Wandbilddrucke 1840 bis 1940 , bis 26.Juni. Museum für Kunst- und Kulturgeschichte, Dortmund

Christa Pieske: Bilder für Jedermann , München: Kayser 1988, 39DM