Lage hoffnungslos, aber nicht ernst

Italiens Westküste im Umweltdebakel/ Wechselbäder widersprüchlicher Informationen/ Spektakuläre Desaster lenken von der alltäglichen Öko-Katastrophe durch Chemiegifte ab  ■ Von Werner Raith

Genua/Livorno/Pisa (taz) — „Mit den Umweltschäden“, sagt Girolamo D'Onofrio vom Verband der Tourismusetablissements der Toskana, „mit denen könnten wir möglicherweise fertigwerden. Mit unseren Politikern und Beamten leider nicht. Das wahre Desaster sind sie.“

Da ist was dran, auch wenn es wie eine Ablenkung vom Desaster nach der Kollision des Fährschiffs Moby Prince mit dem Tanker Agip Abruzzo vor Livorno und der Explosion des Großtankers Haven bei Genua mitte April klingt: gut sechs Wochen nach den mit schwersten Unfällen der modernen Schiffahrtsgeschichte ist noch immer unklar, wie weit die Schutzmaßnahmen wirklich sind und welche ökologischen Kosequenzen tatsächlich zu befürchten sind. „Alles, was derzeit an Stellungnahmen herauskommt“, beklagt die Umweltschutzorganisation „Italia nostra“, „steht im Rahmen touristischen Welfares und nicht wirklich ökologischer Probleme.“ Die „Lega per l'ambiente“ erkennt, daß „niemand eine fundierte Lagebeurteilung zu erstellen imstande ist, weil alle Daten, die wir nicht selbst sammeln, von Interessen und nicht von der Suche nach Wahrheit geprägt sind“.

Tatsächlich ist es derzeit kaum möglich, sich einen auch nur einigermaßen korrekten Überblick über den Sachstand an Italiens Westküste zu verschaffen: kaum ein Tag, an dem nicht neue offizielle oder halboffizielle Stellungnahmen bekannt, Einschätzungen oder sogar Verbote veröffentlicht — und tags danach wieder korrigiert oder aufgehoben werden. Der Umweltminister verfügt Schutzzonen, der Zivilschutzminister behauptet dagegen, die Strände seien völlig ungefährlich; die Regionalregierung der Toskana kündigt die endgültige Freigabe nahezu aller Küsten an, während die Behörden in Genua noch immer darum streiten, ob in der Haven in 70 Meter Tiefe noch Öl ist und somit die gesamte Küste gefährden kann oder nicht.

Der Flug von Pisa entlang der toskanischen Küste und dann über die Gewässer von Korsika nach Marseille und zurück entlang den Stränden Liguriens bringt nur wenig Erhellendes: immer wieder erkennt man besonders ruhige Flächen auf der sonst leicht bewegten Wasseroberfläche, Zeichen, daß hier noch zusammenhängende Ölteppiche schwimmen. An einigen von ihnen nagen seitwärts die Schläuche von Sanierungsschiffen, doch der Großteil bewegt sich frei im Meer. Schwer zu schätzen von oben, wieviele Hektar es alles in allem sein mögen, und schwer auch zu sagen, was da noch von den Tankerunglücken stammt und was von den unverbesserlichen Lastdampfern zusätzlich abgelassen wird.

Mindestens ein Dutzend größerer Schiffe unter uns ziehen hinter sich scharze Fahnen her, Zeichen, so unser Pilot, daß „die gerade mal wieder kräftig die Klappen aufgemacht und ihren Dreck freigegeben haben“.

In Livorno geht es bei unserer Rückkunft hoch her: die Vereinigung von Hinterbliebenen der Moby Prince-Opfer hat zufällig erfahren, daß die von der Regionalverwaltung längst versprochene Kommission zur Untersuchung des Unglücks erst jetzt formell eingesetzt wurde; die Menschen sind entsprechend aufgebracht.

Derart, daß sie auch an sich positive Nachrichten nicht anders als mit Wut aufnehmen können. So etwa die Mitteilung, daß zuständige Amtsrichter aufgrund der unentwirrbaren Informationslage soeben eine Reihe von Gutachten über die Schwere der Schäden angeordnet hat, die durch den Ölauslauf für die toskanische Küste eingetreten sind oder noch drohen: „Unsere Verwandten sind umgekommen“, schreit die Frau eines Moby Prince-Toten, „und die machen sich Gedanken um irgendwelche Fische oder Pflanzen.“ Unzufrieden sind aber auch die Umweltschützer: „Das hätte beileibe früher kommen müssen. Was man damals durch regelmäßige Entnahmen und Überflüge leicht hätte feststellen können — die Menge und der Verbleib auslaufenden Öls zum Beispiel — ist nun nur noch mit großen Mühen erkennbar und wird daher auch immer Gegenstand von Widersprüchen bleiben.“

Die soeben veröffentlichte Landkarte des Gesundheitsministeriums über die Bademöglichkeit an den italienischen Meeren ist ein Musterbeispiel dafür. Fast ein Drittel der mehr als 8.500 Kilometer Küste ist gesperrt, vermerkt das Ministerium, und sofort bricht ein Sturm der Entrüstung los: wie sich herausstellt, sind bei den 30 Prozent Badeverbot auch all jene Zonen einbezogen, die auch ohne Umweltschädigung gesperrt sind, so etwa die Häfen und militärische Übungsgebiete.

Das wiederum gibt den Tourismusmanagern die Möglichkeit, auch die tatsächlich wegen gesundheitlicher Gefahren markierten Zonen anzuzweifeln und den Gästen weiszumachen, daß die Gegend nur deshalb indiziert sei, weil „irgendein Bonze da seinen geschützten Strand will“ (so ein Strandbarbesitzer der ligurischen Cinqueterre, dessen Küsten jedoch ausschließlich wegen des Öls total gesperrt wurden). In Ravenna ebenso wie weiter südlich in Senigallia vermutet die Hotellerie an der ebenfalls streckenweise gesperrten Adria, „daß diese Liste eine Rache der Leute von der anderen Stiefelseite wegen unserer guten Buchungslage ist“: tatsächlich hatten die bis voriges Jahr schwer von der Algenplage gebeutelten Ost-Küstler sofort nach der Haven-Katastrophe für umgerechnet fast zehn Millionen DM Werbespots geschaltet und die Stornierungen der Westküste nahezu allesamt zu sich herübergelockt, und das hatte böses Blut bei den ölverseuchten Gemeinden gegeben. Doch daß die Badeverbote nun reine Revanche seien, „kann selbst der Böswilligste nicht behaupten“, wie „Greenpeace“ vorige Woche verlauten ließ, und „eher zu wenig als zu viel Verbote“ sekundierte der World Wildlife Found: „An der generellen Situation hat sich seit dem Vorjahr kaum etwas geändert.“ Die nach dem Proteststurm herausgegebene Rückzugsbehauptung des Gesundheitsministeriums, alles in allem sei doch eine wenigstens hinter dem Komma spürbare Verbesserung der Lage zu erkennen, erwies sich schnell als hohl: wenn eine Reihe von Regionen weniger Badeverbote als früher ausweist, rührt das einfach daher, daß die zuständigen Stellen die angeforderten Daten einfach nicht übermittelt haben.

Einige Amtsrichter in Unteritalien — wo das Weghören bei unangenehmen Anforderungen besonders verbreitet ist — haben bereits die Sperrung aller Strände angekündigt, die ihre Meßwerte nicht sofort in einwandfreier Form nachreichen.

Daß sich wenig an der Gesamtlage geändert hat war auch voraussehbar: „Die wichtigste Beeinträchtigung der Gesundheit unserer Natur, der Strände und der Meere“, so „Italia nostra“, „rührt ja nicht von den spektakulären Unglücken her, sondern von der alltäglichen Belastung. Leider haben gerade die großen Unfallöle von dieser Tatsache abgelenkt.“

Ein im Vorjahr durchgeführtes Referendum gegen das Aufbringen von Pestiziden und Insektiziden auf Feldern ging daneben, obwohl sich 90 Prozent der Abstimmenden für das Verbot ausgesprochen hatten — die Regierungsparteien und die großen Bauernverbände hatten zum Boykott aufgerufen und so waren weniger als die für die Gültigkeit notwendigen fünfzig Prozent aller Wahlberechtigten zur Abstimmung gegangen. Daß das ein „Schuß ins eigene Bein“ war, wie das die Grünen im Parlament definiert hatten, zeigt sich jetzt: die negativen Meßwerte an den Küsten sind großenteils Folge weiterer fröhlicher Chemie-Streuung.

Da hilft es auch wenig, wenn die Strandetablissements und die Hotelbesitzer im Verein mit den Tourismusdezernenten der Küstenstädte Hunderte von Bulldozern geleast haben, eifrige Espressobarbesitzer jeden Morgen Ausschau nach angeschwemmtem Teer halten und bei Annäherung von Ölinseln sofort die überall stationierten kleinen Petroleumschluckschiffe in Fahrt setzen. Nicht zu leugnen zwar, daß sich der toskanische und der ligurische Strand dieses Jahr dem Auge so sauber wie noch nie präsentieren. Doch „das Böse an dieser Verschmutzung ist, daß der Begriff ,Schmutz‘ nicht mit unserer Vorstellung von sichtbarem Dreck übereinstimmt“, erklärte ein mutiger Beamter des Gesundheitsministerium bei einer Versammlung von ligurischen Fischern in Genua: „Er zeigt sich erst, wenn man im Wasser schwimmt, weil man Pusteln kriegt, oder den Fisch und die Muscheln ißt, und dann Durchfall oder Geschwüre an den Organen bekommt.“